Wer im Jurastudium erfolgreich Fälle lösen will, muss vor allem eines können: systematisch denken. Der Schlüssel dazu liegt im sogenannten Falleinstieg – also dem Moment, in dem du einen Sachverhalt das erste Mal analysierst und deinen Prüfungsaufbau planst.
Doch was banal klingt, ist in der Praxis der entscheidende Unterschied zwischen planlosem Herumschreiben und einer klar strukturierten, überzeugenden Klausur.
In diesem Beitrag zeigen wir dir Schritt für Schritt, wie du richtig in den Fall einsteigst – von der ersten Zeile des Sachverhalts bis zur fertigen Reinschrift.
1. Schritt: Verstehen des Sachverhaltes
Bevor du überhaupt an Paragraphen denkst, musst du verstehen, was passiert ist.
Das klingt selbstverständlich – aber viele Studierende machen den Fehler, zu schnell in die juristische Prüfung einzusteigen.
So gehst du vor:
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Lies den Sachverhalt in Ruhe komplett durch.
Ziel: Ein Gesamtverständnis entwickeln. Wer ist wer? Was passiert überhaupt? -
Markiere beim zweiten Lesen wichtige Textstellen.
Achte besonders auf: Handlungen, Erklärungen, Zeitangaben und Eigentumsverhältnisse. -
Erstelle eine graphische Übersicht.
Eine kleine Skizze hilft enorm, um den Überblick zu behalten.
Sie sollte enthalten:-
Alle beteiligten Personen
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Ihre Rechtsbeziehungen zueinander (mit Paragraphen)
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Eine Trennung zwischen schuldrechtlicher und dinglicher Ebene
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Eine Zeitskala, falls der Sachverhalt sich über mehrere Zeitpunkte erstreckt
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Diese Visualisierung ist kein unnötiger Aufwand, sondern dein juristisches Navigationssystem.
2. Schritt: Erfassen der Aufgabenstellung
Jetzt kommt der Prüfungsauftrag: Wonach wird gefragt?
Schau genau hin:
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Wird nach einem bestimmten Anspruch gefragt („Kann A von B Zahlung verlangen?“)?
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Oder lautet die Frage allgemein: „Wie ist die Rechtslage?“
Dann musst du den gesamten Sachverhalt auf alle möglichen Rechtsfragen untersuchen.
In diesem Fall gilt es, die wirtschaftlich sinnvollen Ziele der Parteien zu erkennen und diese in juristische Rechtsfolgen zu übersetzen. Beispiele für häufige Anspruchsziele:
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Erfüllungsanspruch (z. B. Kaufpreiszahlung oder Übereignung)
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Herausgabeanspruch
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Schadensersatzanspruch
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Nutzungs- und Verwendungsersatz
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Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruch
Tipp: Notiere dir kurz, was A will, was B will und wo der Konflikt liegt.
3. Schritt: Bestimmung der Anspruchsgrundlage
Nun folgt der Kern des juristischen Arbeitens: Welche Norm gibt dir das gewünschte Ergebnis?
Eine saubere Anspruchsprüfung steht und fällt mit der richtigen Anspruchsgrundlage.
Wenn mehrere in Betracht kommen, musst du sie in der richtigen Reihenfolge prüfen, um methodische Fehler zu vermeiden.
Die Reihenfolge lautet immer:
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Vertragliche Ansprüche
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Vertragsähnliche / quasivertragliche Ansprüche
(z. B. §§ 280 I, 311 II BGB – cic; §§ 677 ff. BGB – GoA; § 122 I BGB; § 179 BGB) -
Dingliche Ansprüche (§§ 861, 862, 985, 987 ff., 894, 1007 BGB)
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Deliktische Ansprüche (§§ 823 ff. BGB)
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Bereicherungsrechtliche Ansprüche (§§ 812 ff. BGB)
Merke: Eine Anspruchsgrundlage darf nie geprüft werden, wenn sie von einer anderen verdrängt oder gesperrt wird – das wäre ein klassischer methodischer Fehler.
4. Schritt: Anfertigung der Lösungsskizze
Bevor du mit der Reinschrift beginnst, solltest du eine Lösungsskizze anfertigen.
Sie ist dein Sicherheitsnetz und hilft dir, deine Gedanken zu sortieren.
Wichtig:
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Plane ca. 20 Minuten dafür ein.
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Skizziere stichwortartig den Aufbau:
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Obersatz
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Definition
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Subsumtion
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Ergebnis
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In dieser Phase denkst du die Klausur im Kopf bereits durch. Du bringst die Anspruchsgrundlagen in die richtige Reihenfolge und überlegst dir, wo die Probleme liegen könnten. So gehst du mit einem klaren Plan in die Reinschrift – und vermeidest, dich in Details zu verlieren.
5. Schritt: Die Reinschrift
Erst jetzt beginnt das eigentliche Schreiben.
Dank deiner Vorarbeit weißt du genau, wo du hinwillst.
Jeder Absatz folgt der klassischen Struktur:
Obersatz – Definition – Subsumtion – Ergebnis
So beweist du, dass du juristisch denken kannst, statt nur Paragraphen aneinanderzureihen.
Fazit
Ein guter Falleinstieg ist die halbe Miete. Wer den Sachverhalt sauber analysiert, die richtigen Anspruchsgrundlagen wählt und eine durchdachte Lösungsskizze erstellt, hat schon gewonnen – lange bevor die Reinschrift beginnt. Juristische Klausuren sind keine Schnellschussübungen, sondern systematische Denkaufgaben.
Wenn du diese fünf Schritte verinnerlichst, wirst du merken: Der „Falleinstieg“ ist kein Hindernis, sondern dein sicherer Start in eine erfolgreiche Klausur.

