Gerichte müssen die medizinische Notwendigkeit bei Strafgefangenen sorgfältig prüfen, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Gerichte müssen die medizinische Notwendigkeit bei Strafgefangenen sorgfältig prüfen, bevor sie eine Entscheidung treffen.

OLG Naumburg, Beschl. v. 05.09.2025 – 1 Ws 240/25

 

Auch hinter Gefängnismauern gilt: Gesundheit ist ein Grundrecht. Das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg hat entschieden, dass das Landgericht (LG) Stendal einem MS-kranken Strafgefangenen rechtliches Gehör verweigert hat, als es dessen Antrag auf eine orthopädische Matratze vorschnell abwies. Die Entscheidung verdeutlicht die Grenzen richterlicher Eile – und betont die Pflicht zur umfassenden Amtsermittlung im Strafvollzug.

 

Der Fall: Gefangener beantragt orthopädische Matratze

Ein an Multipler Sklerose (MS) erkrankter Strafgefangener hatte im Frühjahr 2025 eine orthopädische Matratze beantragt, da er wegen seiner Erkrankung an starken Rücken- und Gliederschmerzen litt. Die Justizvollzugsanstalt (JVA) reagierte zunächst pragmatisch: Man legte ihm zwei Matratzen übereinander, um die Liegefläche weicher zu gestalten. Der Gefangene hielt das für unzureichend und beantragte eine gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG.

Das Landgericht Stendal lehnte den Antrag jedoch im Juni 2025 ab – ohne auf eine zuvor angeforderte ärztliche Stellungnahme zu warten. Das Gericht war zunächst davon ausgegangen, dass die Einschätzung des behandelnden Arztes entscheidungserheblich sei, entschied dann aber überraschend ohne diese Grundlage.

 

Das OLG Naumburg: Verletzung des rechtlichen Gehörs

Das OLG Naumburg hob die Entscheidung des LG auf. Das Gericht habe den Gefangenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt und zudem seine Amtsermittlungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO analog)verletzt.

Die Richter stellten klar: Wenn ein Gericht selbst eine ärztliche Stellungnahme für erforderlich hält, darf es nicht vor deren Eingang entscheiden. Der Betroffene müsse zudem die Möglichkeit erhalten, auf neue Einschätzungen oder Beweislagen zu reagieren.

Das OLG betonte weiter, dass bereits geklärt sei, dass rückenkranke Strafgefangene grundsätzlich Anspruch auf eine medizinisch angemessene Schlafunterlage haben. Wenn eine JVA über keine entsprechenden orthopädischen Matratzen verfügt, könne dies nicht automatisch zu Lasten des Gefangenen gehen.

 

Die Rolle der Ärzte: Uneindeutige Stellungnahmen genügen nicht

Zwar lag dem LG eine E-Mail des behandelnden Arztes vor, diese sei jedoch nicht eindeutig. Die Mitteilung habe nicht ausgeschlossen, dass eine orthopädische Matratze medizinisch notwendig sei. Zudem hatten sowohl der behandelnde Arzt als auch der Anstaltsarzt schriftlich bestätigt, dass die „Doppelmatratzenlösung“ lediglich eine Ersatzmaßnahme sei, weil keine orthopädischen Modelle vorhanden seien.

Für das OLG Naumburg reichte das nicht: Das LG hätte die medizinische Notwendigkeit durch eine aussagekräftige fachärztliche Stellungnahme – gegebenenfalls auch extern – prüfen müssen.

 

Rechtliche Einordnung: Amtsermittlungspflicht und Grundrechte im Strafvollzug

Nach § 120 StVollzG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besteht ein verfassungsrechtlich geschützter Anspruch auf körperliche Unversehrtheit. Für Strafgefangene folgt daraus ein Anspruch auf eine medizinische Versorgung, die den anerkannten Standards entspricht.

Zugleich sind Gerichte im Strafvollzug nach § 120 Abs. 1 StVollzG und dem Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 VwGO analog) verpflichtet, den Sachverhalt eigenständig und umfassend aufzuklären. Eine Entscheidung ohne gesicherte medizinische Grundlage verstößt daher gegen diese Pflicht.

Das OLG stellte fest, dass die Kammer des LG Stendal sich dieser Pflicht nicht entziehen konnte, nur weil die JVA über keine orthopädischen Matratzen verfügte. Die Frage, ob eine medizinische Notwendigkeit bestand, hätte weiter untersucht werden müssen.

 

Fazit: Gesundheitsschutz endet nicht an der Gefängnistür

Das Urteil des OLG Naumburg macht deutlich, dass Menschenwürde und Gesundheitsschutz auch im Strafvollzug uneingeschränkt gelten. Die Pflicht zur Amtsermittlung verlangt von Gerichten, medizinische Fragen sorgfältig zu klären, bevor sie über Anträge entscheiden.


Für die Praxis bedeutet das:

  • Gerichte dürfen Entscheidungen nicht treffen, solange entscheidungserhebliche Beweise noch ausstehen.

  • Strafgefangene behalten ihr Recht auf eine den Umständen entsprechende Gesundheitsversorgung.

  • Eine „Notlösung“ wie zwei Matratzen übereinander ersetzt kein orthopädisches Hilfsmittel.

Das Verfahren wurde an das LG Stendal zurückverwiesen – das nun prüfen muss, ob dem Gefangenen tatsächlich eine orthopädische Matratze zusteht.

 

Prüfungsrelevanz für das Jurastudium und Referendariat

Der Fall berührt zentrale Themen aus dem Strafvollzugsrecht, Verfassungsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht:

  • Art. 103 Abs. 1 GG – rechtliches Gehör,

  • § 120 StVollzG – gerichtliche Entscheidung im Strafvollzug,

  • Amtsermittlungsgrundsatz und Sachaufklärungspflicht,

  • Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG).

Examensrelevant ist insbesondere die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung und die Frage, wann ein Gericht durch unterlassene Ermittlungen das rechtliche Gehör verletzt.

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