BGH, Beschl. v. 13.08.2025 – XII ZB 285/25
Auch psychisch kranke Menschen haben das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen – selbst dann, wenn diese objektiv nachteilig sind. Das bekräftigte der Bundesgerichtshof (BGH) in einem aktuellen Beschluss. Danach darf eine Vertretung nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X nicht gegen den freien Willen des Betroffenen bestellt werden. Maßgeblich sei allein, ob die Person in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden – nicht, ob die Entscheidung „vernünftig“ erscheint.
Der Fall: Streit um Sozialleistungen und Vertreterbestellung
Der 1983 geborene Betroffene bezog zunächst Grundsicherungsleistungen zur Aufstockung seiner geringen Erwerbsminderungsrente. Nachdem er ab 2022 seiner Mitwirkungspflicht zur Aufklärung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr ausreichend nachkam, lehnte das Sozialamt die Weiterbewilligung ab.
Ein Eilverfahren vor dem Sozialgericht blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) verpflichtete die Stadt später zwar zur vorläufigen Leistungserbringung, verwies aber auf mögliche krankheitsbedingte Mitwirkungsdefizite.
Daraufhin beantragte die Stadt beim Betreuungsgericht die Bestellung eines Vertreters nach § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X. Das Amtsgericht Bocholt stimmte zu. Der Betroffene – laut Gutachten mit einer Persönlichkeitsstörung diagnostiziert – wollte diese Vertretung aber ausdrücklich nicht. Das Landgericht Münster bestätigte zunächst die Entscheidung des Amtsgerichts. Erst der BGH hob sie nun auf.
Die Entscheidung des BGH: Kein Vertreter gegen den Willen des Betroffenen
Der XII. Zivilsenat stellte klar, dass eine Vertretung im sozialrechtlichen Verfahren nicht gegen den freien Willen einer Person angeordnet werden darf.
Nach § 15 Abs. 4 SGB X sei auf das Betreuungsrecht (§ 1814 Abs. 2 BGB) zu verweisen. Danach ist die Bestellung eines Betreuers nur zulässig, wenn der Betroffene nicht fähig ist, einen freien Willen zu bilden.
Die Karlsruher Richter betonten:
„Auch eine psychische Erkrankung schließt die freie Willensbildung nicht automatisch aus.“
Das Landgericht habe nicht hinreichend geprüft, ob der Mann tatsächlich unfähig war, eigenständig über die Bestellung eines Vertreters zu entscheiden.
Laut Gutachten war der Mann einsichtsfähig und konnte die Bedeutung einer Vertretung nachvollziehen – Zweifel daran, ob er im Alltag konsequent danach handeln könne, reichten nicht aus, um seinen Willen zu übergehen.
Selbstbestimmung vor Fürsorge
Der BGH machte deutlich, dass die Vertreterbestellung nicht dazu dienen dürfe, den Betroffenen zu „bessern“ oder vor sich selbst zu schützen.
Das Selbstbestimmungsrecht gelte auch dann, wenn die Entscheidung des Betroffenen objektiv unvernünftig oder selbstschädigend erscheine.
Nur wenn Rechtsgüter Dritter betroffen wären, könne der Staat in das Selbstbestimmungsrecht eingreifen. Im vorliegenden Fall gehe es aber allein um die Verwaltung seiner eigenen Sozialangelegenheiten.
Darüber hinaus müsse eine Vertreterbestellung konkret auf bestimmte Verwaltungsverfahren beschränkt werden. Eine pauschale Vertretung – wie sie das Amtsgericht angeordnet hatte – sei zu unbestimmt und daher rechtswidrig.
Fazit
Der BGH stärkt mit dieser Entscheidung das Recht auf Selbstbestimmung psychisch erkrankter Menschen im Verwaltungs- und Betreuungsrecht.
Wer einsichtsfähig ist und die Tragweite seiner Entscheidung erkennt, darf selbst bestimmen, ob er eine Vertretung wünscht – auch dann, wenn dies zu seinem Nachteil ist.
Das Urteil unterstreicht: Freiheit bedeutet auch, Fehler machen zu dürfen.
Prüfungsrelevanz für Jurastudium und Referendariat
Der Beschluss ist examensrelevant im Betreuungs- und Sozialverwaltungsrecht.
Zentrale Punkte für Klausuren:
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§ 15 SGB X: Voraussetzungen und Grenzen der Vertreterbestellung
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§ 1814 Abs. 2 BGB: Begriff des freien Willens
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Verfassungsrechtliche Dimension: Art. 2 Abs. 1 GG (Selbstbestimmungsrecht)
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Abgrenzung zwischen Fürsorgeprinzip und Selbstbestimmungsrecht
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Bedeutung psychischer Erkrankungen für die Willensfreiheit

