LSG Halle, Urt. v. 08.05.2025 – L 4 VE 4/24
Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann grundsätzlich staatliche Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) beanspruchen. Doch dieser Anspruch ist nicht grenzenlos. Das Landessozialgericht (LSG) Halle entschied, dass ein Mann trotz einer schweren Schussverletzung keine Entschädigung erhält, weil er Teil eines kriminellen Umfelds war. Die Gewährung öffentlicher Mittel sei unter diesen Umständen unbillig im Sinne von § 2 Abs. 1 OEG.
Der Sachverhalt: Schussverletzung nach gewalttätiger Auseinandersetzung
Im Jahr 2012 suchte der Kläger einen Gebrauchtwagenhändler in Berlin auf, mit dem er geschäftlich verbunden war. Zwischen den Anwesenden kam es zu einer heftigen Eskalation – Baseballschläger, Eisenstangen und schließlich eine Schusswaffe kamen zum Einsatz. Der Mann wurde am Oberschenkel getroffen und erlitt eine schwere Schussverletzung.
Erst fünf Jahre später, im Jahr 2017, stellte er einen Antrag auf Leistungen nach dem OEG und machte geltend, seit der Tat an körperlichen und psychischen Spätfolgen zu leiden. Die Behörde lehnte den Antrag ab – mit der Begründung, der Mann habe die Schädigung selbst mitverursacht. Sowohl das Sozialgericht (SG) als auch das Landessozialgericht (LSG) bestätigten diese Entscheidung.
Die Entscheidung des LSG Halle
Das LSG Halle erkannte zwar an, dass der Kläger objektiv Opfer einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Gewalttat im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG war. Dennoch bestehe kein Anspruch auf Entschädigung, weil die Gewährung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig sei.
Nach dieser Vorschrift entfällt der Anspruch, wenn der Geschädigte die Tat durch eigenes Verhalten provoziert oder gefördert hat oder wenn es aus sonstigen Gründen unbillig wäre, staatliche Leistungen zu gewähren.
Das Gericht stellte fest, dass der Kläger Teil eines kriminellen Milieus war und sich durch sein Verhalten „bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft“ gestellt habe.
Kriminelles Umfeld und fehlende Kooperation
Zur Überzeugung des Gerichts stand fest, dass der Mann in kriminelle Geschäfte verwickelt war. Er war bereits polizeibekannt, ebenso wie die anderen an der Auseinandersetzung Beteiligten. Nach dem Vorfall habe er sich nicht an die Polizei gewandt, sondern versucht, die Angelegenheit „intern“ zu klären – ein typisches Verhalten in der organisierten Kriminalität, so das Gericht.
Hinzu kam, dass er bei seiner Vernehmung „szenetypisches Fachwissen“ erkennen ließ. So habe er angegeben, nicht zu glauben, dass ein „Auftragskiller“ auf ihn angesetzt worden sei – eine Ausdrucksweise, die nach Auffassung des Gerichts verdeutliche, dass der Kläger mit derartigen Strukturen vertraut war.
Rechtliche Würdigung: Grenzen des Opferstatus
Nach ständiger Rechtsprechung entfällt die Entschädigung, wenn sich jemand freiwillig in ein kriminelles Umfeld begibt, in dem Gewaltanwendung typischer Bestandteil ist. Die Allgemeinheit soll nicht für Risiken aufkommen, die jemand bewusst auf sich nimmt, indem er sich in solche Strukturen begibt.
Das Gericht betonte, dass der Staat zwar grundsätzlich verpflichtet sei, Opfer vorsätzlicher Gewalttaten zu unterstützen, dieser Schutz jedoch nicht grenzenlos gelte. Wer durch sein eigenes Verhalten die Gefahr herbeiführt oder fördert, verliert den Anspruch auf staatliche Unterstützung.
Die Entscheidung verdeutlicht, dass das OEG keinen allgemeinen Schadensausgleich für jedes Opfer einer Straftat darstellt, sondern eine Solidarleistung der Gemeinschaft für unschuldig betroffene Opfer.
Fazit
Das LSG Halle bestätigt mit dieser Entscheidung eine restriktive Linie im Opferentschädigungsrecht:
Selbst eine objektiv schwere Verletzung – wie eine Schusswunde – führt nicht automatisch zu einem Anspruch auf Entschädigung, wenn der Betroffene Teil eines kriminellen Umfelds war und durch sein Verhalten zur Eskalation beigetragen hat.
Der Staat schuldet keine Entschädigung für Risiken, die jemand bewusst aus der eigenen Lebensführung heraus eingeht.
Prüfungsrelevanz für Jurastudium und Referendariat
Der Fall ist examensrelevant im Sozialrecht (Opferentschädigungsgesetz) sowie im Allgemeinen Verwaltungsrecht:
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§ 1 und § 2 OEG – Voraussetzungen und Ausschlussgründe des Anspruchs
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Unbilligkeit als unbestimmter Rechtsbegriff
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Abgrenzung zwischen Opferrolle und Mitverantwortung
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Zurechnung und Eigenverhalten im öffentlichen Leistungsrecht
Für Klausuren wichtig: Die Entschädigung kann trotz objektivem Tatopferstatus entfallen, wenn der Antragsteller bewusst in einem Gewaltmilieu agiert oder die Gefahr selbst herbeiführt.

