Überdurchschnittliche juristische Leistungen entstehen nicht zufällig, sondern beruhen auf einem klar identifizierbaren Qualitätsprofil. Dieses Profil lässt sich strukturell erfassen und bietet damit eine präzise Grundlage, um die eigenen Fähigkeiten gezielt zu schärfen. Klausuren und Hausarbeiten folgen dabei denselben Bewertungsmaßstäben. Diese neun Gruppen bestimmen die Qualität: Struktur, Stringenz, Strategie, Vollständigkeit, Genauigkeit, Wissen, Begründungstiefe, Differenzierung und Sprache.
1. Struktur
Struktur ist einer der zentralen Erfolgsfaktoren. Wer systematisch denkt, argumentiert und prüft, schafft es, komplexe Rechtsfragen klar zu ordnen und überzeugend darzustellen – eine Fähigkeit, die Prüfer:innen konsequent mit besseren Noten belohnen. Doch Struktur bedeutet weit mehr als das bloße Abarbeiten von Schemata. Struktur bedeutet die klare Ordnung juristischer Argumentation durch Oberbegriffe und untergeordnete Merkmale.
Im Strafrecht zeigt sich dies im Aufbau über objektiven und subjektiven Tatbestand, im öffentlichen Recht etwa im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen Elementen legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Mittel-Zweck-Relation. Solche Gliederungen bilden das Fundament jeder juristischen Prüfung, reichen jedoch für überdurchschnittliche Leistungen noch nicht aus. Eine wirklich tragfähige Struktur verlangt Ausdifferenzierung und präzise Wertungsarbeit.
Die Mittel-Zweck-Relation verdeutlicht das. Häufig bleibt unklar, welche Zwecke verfolgt werden und welche Nachteile eine Maßnahme verursacht. Erst die Gegenüberstellung der mit der Maßnahme verfolgten Vorteile, der eintretenden Nachteile und ihrer jeweiligen Wahrscheinlichkeit erlaubt eine belastbare Wertung. Entscheidend ist, ob die Nachteile wesentlich überwiegen. Das bekannte Spatzenbeispiel im Strafrecht beschreibt dies anschaulich: Nicht der Wert des Spatzes ist entscheidend, sondern die dahinterstehenden Rechtsgüter und die Schwere ihrer Beeinträchtigung. Nur ein deutliches Überwiegen der negativen Folgen macht eine Maßnahme unverhältnismäßig.
Struktur setzt sich in der Fallbearbeitung fort. Grobe Skizzen mit einem bloßen (+) oder (–) führen zu oberflächlichen Ausführungen. Eine differenzierte Skizze zwingt zum Denken. Das Beispiel der Erforderlichkeit im Rahmen des § 32 StGB zeigt, dass Alternativen geprüft, ihre Eingriffsintensität bewertet und ihre Effektivität verglichen werden müssen. Erst diese Vorarbeit ermöglicht eine überzeugende Bewertung. Mit wachsender Übung verkürzt sich die Skizze, ohne an Tiefe zu verlieren.
Struktur betrifft nicht nur den äußeren Aufbau, sondern das Denken selbst. Ergebnisorientiertes Schreiben verfälscht Wertungen. Strukturen müssen fortlaufend hinterfragt und an Rechtsprechung und Gesetzeslagen angepasst werden, um Fehlerquellen und unreflektierte Vereinfachungen zu vermeiden. Struktur bedeutet somit analytische Haltung, präzise Einordnung und konsequente Wertung.
Tipps für mehr Struktur
- Fachaufsätze sollten stets daraufhin gelesen werden, welche Wertungsmuster darin dargestellt und analysiert werden.
- Wenn ein erster Aufsatz unklar bleibt, sollte bewusst ein zweiter herangezogen werden, um den Zugang zum Thema zu vertiefen.
- Zu zentralen Entscheidungen sollten mindestens zwei Urteilsbesprechungen gelesen werden, um verschiedene juristische Blickwinkel zu erfassen.
- Eigene Prüfungsfolgen für Standardprobleme sollten auswendig gelernt und kontinuierlich verfeinert werden.
- Auch in vertrauten Rechtsgebieten sollten bestehende Strukturen regelmäßig überprüft und weiter präzisiert werden.
-
2. Stringenz
Überdurchschnittliche Leistungen entstehen nur, wenn eine juristische Arbeit nicht nur strukturiert, sondern auch stringent ist. Stringenz bedeutet, dass alle Argumente logisch aufeinander aufbauen, keine Brüche entstehen und die dogmatische Reihenfolge eingehalten wird. Der Begriff wird teils mit „Schlüssigkeit“ übersetzt, im juristischen Kontext ist dieser Ausdruck jedoch missverständlich, weil „Schlüssigkeit“ im Prozessrecht ein eigener Fachbegriff ist. Gemeint ist hier eine durchgehend folgerichtige Gedankenführung ohne Widersprüche.
Unstringente Arbeiten entstehen oft dort, wo Prüfungsabläufe vermischt oder dogmatische Reihenfolgen ignoriert werden. Typisches Beispiel aus dem Zweiten Staatsexamen: In vielen Anwaltsklausuren wird sofort eine Beweisprognose vorgenommen, ohne vorher festzustellen, ob eine Tatsache überhaupt streitig ist und wer die Beweislast trägt. Unstreitige Tatsachen werden anschließend dennoch mit einem Beweisantritt versehen. Das ist nicht nur unnötig, sondern widerspricht der inneren Logik des Gutachtens.
Auch in der Fallbearbeitung zeigt sich mangelnde Stringenz durch falsche Reihenfolgen. Im Spatzenbeispiel wäre eine Prüfung der Mittel-Zweck-Relation nicht mehr stringent, wenn zuvor bereits feststeht, dass das Mittel nicht geeignet ist. Geeignetheit ist zwingend vor der Mittel-Zweck-Relation zu prüfen. Der alte Lehrsatz „Alles, was überflüssig ist, ist falsch“ weist genau darauf hin: Wer unnötige Schritte einbaut oder dogmatische Strukturen verdoppelt, erzeugt Brüche im Gedankengang.
Ein weiteres Beispiel für fehlende Stringenz ist die unnötige Inzidentprüfung. Im Zivilrecht muss die unerlaubte Handlung des Verrichtungsgehilfen nicht im Rahmen des § 831 Abs. 1 BGB erneut geprüft werden, wenn ohnehin Ansprüche unmittelbar gegen den Gehilfen untersucht werden. Zwar ist eine doppelte Prüfung kein schwerer formaler Fehler, aber sie verkompliziert den Aufbau unnötig und wirkt unsauber.
Stringenz bedeutet zudem, Unnötiges wegzulassen. Ausführungen ohne Wertungsfunktion stören den Fluss. Historische Hintergründe einer Norm sind regelmäßig nicht prüfungsrelevant und sollten nicht dargestellt werden, es sei denn, sie spielen im Rahmen einer historischen oder teleologischen Auslegung eine konkrete Rolle. Entscheidend ist damit, dass jede Überlegung eine wertungsleitende Funktion erfüllt. Alles andere hemmt die Klarheit der Argumentation.
Kleine Stringenzmängel schwächen eine Arbeit nicht immer unmittelbar, doch in der Summe verhindern sie, dass eine Klausur als überdurchschnittlich bewertet wird. Größere Stringenzfehler – etwa echte Widersprüche, massive Aufbaufehler oder eine falsche Prüfungsreihenfolge – können eine grundsätzlich gute Arbeit sogar vollständig entwerten. Stringenz entscheidet daher maßgeblich darüber, ob eine juristische Leistung überdurchschnittlich wahrgenommen wird oder nicht.
Tipps für einen stringenten Aufbau
- Stelle dir bei jedem Gutachten die Frage, ob der Aufbau logisch, folgerichtig und ohne Brüche ist.
- Erstelle stets eine Lösungsskizze; je detaillierter sie ist, desto eher entdeckst du Unstimmigkeiten, bevor du zu schreiben beginnst.
- Suche für jede Problematik eine klare Struktur oder Prüfungsfolge; existiert keine, entwickle eine eigene und wende sie konsequent an.
- Nutze deinen gesunden Menschenverstand und überprüfe, ob deine Argumente nachvollziehbar, logisch aufgebaut und vollständig sind.
- Lies jeden Text kritisch gegen und streiche alles, was keine Funktion hat oder die Wertung nicht voranbringt.
3. Strategie
Strategie bedeutet im Prüfungskontext nicht, ein gewünschtes Ergebnis durchzusetzen. Gemeint ist die Fähigkeit, eine konstruierte Klausur so anzugehen, dass Ressourcen optimal genutzt und Inhalte unter Zeitdruck präzise dargestellt werden. Examensklausuren bilden nie die Realität ab, auch nicht im Zweiten Staatsexamen. Selbst dort werden reale Fälle gezielt so modifiziert, dass typische Probleme eingebaut oder erweitert werden. Deshalb muss jede erkannte Problematik stets kritisch geprüft werden: Ist es wirklich das bekannte Standardproblem – oder eine Abwandlung?
Strategisches Vorgehen bedeutet auch, Zeitdruck realistisch einzuplanen. Wenn der Fall verschiedene Aufbauvarianten zulässt, sollten die Abschnitte mit den relevanten Problemen vorgezogen werden. Viele Klausuren scheitern daran, dass Prüflinge zunächst unwichtige Teile ausführlich bearbeiten und die entscheidenden Punkte erst am Ende – unter Zeitdruck – nur oberflächlich oder gar nicht mehr ausführen.
Strategie unterscheidet sich zudem klar von prozesstaktischem Vorgehen aus der anwaltlichen Perspektive des Zweiten Staatsexamens. Gemeint ist hier vielmehr ein Perspektivwechsel auf den Blick der Korrektor:innen. Es geht nicht darum, gefällig zu schreiben, sondern darum, keine Ungenauigkeiten entstehen zu lassen. Fehler, die in der Praxis später korrigiert werden könnten, bleiben in der Klausur bestehen und wirken sich unmittelbar negativ aus. Ein strategisches Denken erfordert daher die Fähigkeit, Wesentliches zu erkennen und konsequent in den Mittelpunkt zu stellen.
Auch in der Praxis spielt dieser strategische Blick eine entscheidende Rolle. Schriftsätze sollten nicht mit dem Ziel formuliert werden, Mandanten zu beeindrucken, sondern so, dass die richterliche Leserschaft strukturiert, klar und präzise abgeholt wird. Sachlichkeit und Ordnung sind strategische Mittel. Schon das bewusste Schaffen einer geordneten Darstellung ist ein strategisches Element.
Eine einfache Übung zur Schärfung dieses strategischen Denkens besteht darin, bei jeder Klausur selbstkritisch zu benennen, warum gerade dieser Fall gestellt wurde.
Welche Schwerpunktproblematik wurde eingebaut? Ist es ein Standardproblem oder liegt eine Modifikation vor? Gerade während der Corona-Pandemie zeigte sich etwa, wie § 313 BGB – Wegfall der Geschäftsgrundlage – plötzlich in neuem Kontext relevant wurde.
Tipps für bessere Strategien
-
Analysiere bei jeder Prüfungsaufgabe bewusst, warum gerade diese Fallkonstellation gestellt wurde und welches Kernproblem darin verborgen ist.
- Ordne den erkannten Problemfeldern eine klare Wertigkeit zu und arbeite die besonders gewichtigen Bereiche entsprechend detailliert aus.
- Bearbeite Schwerpunkte nicht schematisch, sondern entwickle eigene, individuell durchdachte Argumente statt nur das wiederzugeben, was vermeintlich erwartet wird.
4. Vollständigkeit
Vollständigkeit bedeutet, dass alle rechtlich relevanten Aspekte einer Prüfungsaufgabe erkannt, angesprochen und in die Prüfung eingeordnet werden. Dazu reicht es nicht aus, lediglich die im Gesetz genannten Merkmale wiederzugeben. Überdurchschnittliche Leistungen setzen voraus, dass du auch jene Elemente einbeziehst, die Rechtsprechung und Literatur ergänzend entwickelt haben.
Das Beispiel der psychisch vermittelten Kausalität zeigt, wie Vollständigkeit praktisch funktioniert. In diesen Fällen löst nicht die Handlung des Schädigers unmittelbar die Rechtsgutverletzung aus, sondern eine eigene Entscheidung des Geschädigten, etwa eines Polizisten, der sich bei der Verfolgung eines Flüchtenden verletzt. Obwohl viele sofort auf das Merkmal der „Herausforderung“ springen, wäre das unvollständig. Zunächst müssen immer die allgemeinen Zurechnungsschritte abgeprüft werden: Äquivalenz, Adäquanz und die Frage, ob das eigenverantwortliche Dazwischentreten den Zurechnungszusammenhang unterbricht. Erst danach dürfen die besonderen Herausforderungsgrundsätze der Rechtsprechung herangezogen werden.
Vollständig ist die Prüfung erst, wenn alle erforderlichen Zwischenschritte aufgezeigt sind: Kausalität des Ausgangsverhaltens, Adäquanz, grundsätzliche Zurechnungsunterbrechung durch Selbstgefährdung und schließlich die Ausnahmekriterien des Schutzzwecks der Norm, wie objektive Herausforderung, Verfolgungsrisiko, Rechtmäßigkeit der Handlung des Geschädigten und eine abschließende wertende Abwägung der Risiken und Vorteile. Vollständigkeit bedeutet daher, nichts zu überspringen, was dogmatisch zwingend dazugehört.
Vollständigkeit verlangt nicht nur das Benennen aller relevanten Prüfungsschritte, sondern auch deren wertende Einordnung. Bei komplexen Zurechnungsfragen – wie der psychisch vermittelten Kausalität – genügt es nicht, nur die Prüfungsschritte zu nennen. Erst die Information, dass die Zurechnung dogmatisch auf dem Schutzzweck der Norm beruht und dass die Rechtsprechung zusätzliche Wertungselemente entwickelt hat, macht die Prüfung vollständig.
Viele Prüflinge bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil sie sich auf verkürzte Darstellungen in Kommentaren verlassen. Kommentare sind jedoch kein Ersatz für voll ausgebildete Prüfungsstrukturen. Sie bieten lediglich Orientierung und Einstiegspunkte, nicht aber die Tiefe, die für eine überdurchschnittliche Klausur notwendig ist. Wer sich ausschließlich auf diese kompakten Angaben stützt, übersieht wesentliche Wertungsebenen.
Vollständigkeit bedeutet außerdem, die eigenen Prüfungsfolgen vollständig auswendig zu beherrschen. „Vorrätiges Wissen“ spart Zeit – ein zentraler Faktor im Examen. Je mehr Prüfungsschritte, Wertungen und Ausnahmen du abrufbar parat hast, desto souveräner und vollständiger kannst du argumentieren.
Erfahrene Jurist:innen erweitern ihre Schemata stetig. Bei jeder neuen Fallkonstellation fügen sie Details hinzu, die ihnen bislang unklar waren oder deren Bedeutung sie neu erkannt haben. Häufig geschieht dies aufgrund praktischer Erfahrungen – etwa durch Prozessverluste, die Unvollständigkeiten in der juristischen Argumentation aufdecken.
Neue gesetzliche Entwicklungen und gefestigte Rechtsprechung integrieren sich ebenfalls in diese Prüfungsstrukturen. Beispiele sind die „Neue Formel“ des BVerfG zu Art. 3 GG oder der subjektiv-objektive Fehlerbegriff des § 434 BGB. Viele Prüflinge übersehen diesen trotz seiner zentralen Rolle noch im zweiten Staatsexamen und prüfen vorschnell die „übliche Beschaffenheit“, ohne zuvor Beschaffenheitsvereinbarung oder subjektiven Verwendungszweck auszuschließen. Schon ein kurzer Satz hätte die Prüfung vollständig gemacht – fehlt er, bricht die gesamte Argumentation weg.
So banal „Vollständigkeit“ klingt: Sie ist einer der häufigsten Gründe, warum juristische Leistungen hinter dem möglichen Niveau bleiben.
Tipps für eine vollständige Prüfung

