BGH, Urt. v. 13.08.2025, Az. 5 StR 55/25
Ein tragischer Behandlungsfall aus Hamburg beschäftigt erneut die Strafjustiz: Ein 18-jähriger Patient verstirbt nach einer achtstündigen Zahnbehandlung unter Vollnarkose. Während das Landgericht Hamburg die behandelnde Zahnärztin freisprach, weil sie auf die ordnungsgemäße Arbeit des Anästhesisten habe vertrauen dürfen, hob der Bundesgerichtshof (BGH) dieses Urteil nun auf. Der Fall verdeutlicht die strafrechtlichen Risiken ärztlicher Kooperation – insbesondere bei komplexen Eingriffen unter Narkose.
Der Sachverhalt: Ein Tag, an dem alles schiefging
Der Patient litt an massiver Zahnarztangst und hatte Behandlungen jahrelang vermieden. 2016 entschloss er sich schließlich zu einer Komplettsanierung unter Vollnarkose. Geplant war ein Eingriff von 9:00 bis 17:00 Uhr. Die Zahnärztin beauftragte hierfür einen externen Anästhesisten.
Problematisch: Dieser verfügte weder über die empfohlene technische Mindestausstattung noch über eine Assistenz, die bei so langen Narkosen vorgeschrieben ist. Als die Behandlung über die geplante Zeit hinausging, kam es zu kritischen Vitalwerten. Erst um 18:10 Uhr wurde der Notruf abgesetzt – zu spät. Der junge Mann starb noch am Abend an einem schweren Lungenödem.
Das Landgericht Hamburg verurteilte den Anästhesisten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5, 227 StGB) zu 1 Jahr und 6 Monaten auf Bewährung. Die Zahnärztin hingegen wurde freigesprochen.
Die Entscheidung des BGH
Der 5. Strafsenat des BGH (Urt. v. 13.08.2025, Az. 5 StR 55/25) beanstandete die Begründung des LG:
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Außergewöhnliche Dauer der Narkose: Acht Stunden unter Vollnarkose stellten eine besondere Gefahrenlage dar. Das LG hätte prüfen müssen, ob die Zahnärztin angesichts der Dauer ihre Aufklärungspflichten und Koordinationspflichten verletzt hat.
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Eingeschränkte Voruntersuchung: Da der Patient nur begrenzte Voruntersuchungen zugelassen hatte, war das Risiko erhöht – was eine gesteigerte Sorgfaltspflicht der Behandler begründete.
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Pflicht zur Abstimmung: Das LG übersah, ob die Zahnärztin nach Überschreiten der geplanten Dauer verpflichtet war, mit dem Anästhesisten die Fortführung der Behandlung kritisch zu hinterfragen.
Damit war der Freispruch nicht tragfähig. Das Verfahren wurde an das LG Hamburg zurückverwiesen.
Beim Anästhesisten betrifft die erneute Verhandlung vor allem die Strafzumessung: zu prüfen ist u.a. ein möglicher Verbotsirrtum (§ 17 StGB) sowie die Frage, ob Verfahrensverzögerungen strafmildernd wirken.
Juristische Bewertung
Der Fall verdeutlicht, dass die Sorgfaltspflichten von Zahnärzten und Anästhesisten nicht strikt getrennt nebeneinanderstehen. Vielmehr besteht eine gegenseitige Verantwortung bei Eingriffen, die nur im Team bewältigt werden können.
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Zahnärztin: Ihre Pflichten erschöpfen sich nicht im „Bestellen“ eines Anästhesisten. Bei erheblichen Abweichungen vom Normalfall – hier: extrem lange Dauer, eingeschränkte Diagnostik, fehlende Standards – muss sie die Behandlungsumstände aktiv hinterfragen.
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Anästhesist: Bei ihm lag ein klassischer Organisations- und Ausstattungsmangel vor, der die Hauptursache des Todes bildete. Gleichwohl ist zu prüfen, ob er in einem Verbotsirrtum handelte, also die rechtliche Tragweite seiner Defizite nicht erkannte.
Strafrechtlich steht damit die Abgrenzung von Fahrlässigkeit und Organisationsverschulden im Mittelpunkt, verbunden mit der Frage, wie weit arbeitsteilige Verantwortung im medizinischen Bereich reicht.
Fazit
Der BGH macht deutlich: Bei risikobehafteten Eingriffen unter Vollnarkose dürfen Zahnärzte sich nicht blind auf Anästhesisten verlassen. Vielmehr besteht eine gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit des Patienten. Der Fall wird nun neu verhandelt – mit offenem Ausgang für die Zahnärztin. Unabhängig davon ist klar: Der Fall mahnt zur strikten Einhaltung medizinischer Standards und verdeutlicht die strafrechtliche Dimension ärztlicher Zusammenarbeit.
Prüfungsrelevanz für Studium und Referendariat
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Strafrecht BT: Körperverletzung mit Todesfolge (§§ 223, 227 StGB), Abgrenzung zu fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB).
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Strafrecht AT: Verbotsirrtum (§ 17 StGB), Irrtümer über Pflichten bei arbeitsteiliger Behandlung.
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Medizinstrafrecht: Organisationsverschulden, Garantenstellung bei ärztlicher Kooperation.
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Examenshinweis: Klassisches Beispiel für Sorgfaltspflichten bei medizinischen Eingriffen – häufig Gegenstand von Klausuren und mündlichen Prüfungen.