Der Fall der Sängerin Liän und das Parkhaus-Video
Der Fall der Sängerin Liän sorgt nicht nur in sozialen Medien, sondern auch in der Rechtswissenschaft für Diskussionen. Nachdem sie in einem Münchner Parkhaus von einem Mann bedrängt wurde, filmte sie die Situation und veröffentlichte das Video auf TikTok und Instagram. Juristisch interessant ist dabei weniger die Frage, ob der Mann sich strafbar gemacht hat – das liegt nahe (§ 177 Abs. 1, 3 StGB: versuchter sexueller Übergriff) –, sondern ob Liän selbst mit einer Strafbarkeit rechnen muss. Der Vorwurf: Durch das Posten könnte sie gegen § 201a Abs. 2 StGB verstoßen haben. Damit steht ein klassisches Spannungsfeld im Raum: Schützt das Strafrecht hier zu stark den Täter – und zu wenig das Opfer?
Rechtlicher Rahmen: § 201a Abs. 2 StGB
Die Vorschrift stellt das unbefugte Zugänglichmachen von Bildaufnahmen unter Strafe, wenn diese geeignet sind, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden. Ursprünglich als Schutz vor Cybermobbing konzipiert, soll die Norm verhindern, dass peinliche, diffamierende oder erniedrigende Bilder ohne Einwilligung verbreitet werden.
Auf den Fall Liän übertragen: Das Parkhaus ist ein öffentlicher Ort, eine Aufnahme dort fällt nicht unter § 201a Abs. 1 StGB. Sehr wohl aber kann § 201a Abs. 2 StGB greifen, da das Video geeignet ist, den Mann – selbst als mutmaßlichen Täter – öffentlich herabzuwürdigen. Für die Strafbarkeit genügt schon, dass er für seinen Bekanntenkreis erkennbar ist.
Täterschutz contra Opferschutz
Genau hier liegt das Problem: § 201a Abs. 2 StGB schützt unterschiedslos „die abgebildete Person“ – unabhängig davon, ob es sich um ein Opfer oder um einen mutmaßlichen Täter handelt. Das bedeutet: Auch ein Angreifer, der eine Frau massiv bedrängt, kann sich auf den Schutz dieser Norm berufen.
Das führt zu einer paradoxen Situation: Während der Versuch des Täters (§ 177 StGB) zweifellos strafbar ist, riskiert das Opfer durch die Veröffentlichung von Beweismaterial eine eigene Strafbarkeit. Im Ergebnis schützt das Gesetz damit potentiell Täter vor öffentlicher Bloßstellung – selbst wenn es sich um Straftäter handelt.
Rechtfertigungsgründe und ihre Grenzen
Ein Rückgriff auf klassische Rechtfertigungsgründe löst das Dilemma nur eingeschränkt:
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Notwehr (§ 32 StGB): Sie scheidet aus, da zum Zeitpunkt der Veröffentlichung kein gegenwärtiger Angriff mehr vorlag.
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Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB): Ein späterer Post kann kaum mit einer gegenwärtigen Gefahr begründet werden, da die Bedrohungslage am nächsten Tag bereits beendet war.
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Sozialadäquanz (§ 201a Abs. 4 StGB): Veröffentlichungen im öffentlichen Interesse – etwa durch Polizei oder Medien – sind privilegiert. Private Posts fallen jedoch regelmäßig nicht darunter.
Damit bleibt das Opfer in einer juristischen Grauzone: Es dokumentiert eine Straftat und warnt andere, riskiert aber selbst strafrechtliche Konsequenzen.
Praktische Folgen und Wertungswiderspruch
Die Konsequenz dieser Rechtslage ist fatal: Wer Täterbilder postet, kann selbst zum Beschuldigten werden. Das wirkt abschreckend – gerade für Frauen, die sich gegen Übergriffe wehren wollen und soziale Medien auch zur Selbstverteidigung nutzen. Juristisch entsteht ein Wertungswiderspruch: Während das Strafrecht den Angreifer sanktionieren will, schützt es ihn gleichzeitig vor öffentlicher Bloßstellung durch sein Opfer.
Das wirft die Frage auf, ob § 201a Abs. 2 StGB reformbedürftig ist. Denkbar wäre etwa eine ausdrückliche Ausnahme für Fälle, in denen Täter in flagranti bei Straftaten gefilmt werden und das Video erkennbar der Beweissicherung oder Warnung dient.
Fazit
Der Fall Liän macht deutlich, dass § 201a Abs. 2 StGB in seiner aktuellen Fassung auch Täter schützen kann – und damit Opfern rechtliche Risiken aufbürdet. Zwar dient das Gesetz legitimerweise dem Persönlichkeitsrechtsschutz, doch im Kontext von dokumentierten Straftaten führt es zu problematischen Ergebnissen. Es bleibt abzuwarten, ob Rechtsprechung oder Gesetzgeber hier nachjustieren und einen klaren Vorrang des Opferschutzes schaffen.
Prüfungsrelevanz für Studium und Referendariat
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Strafrecht BT: § 177 StGB (sexueller Übergriff), Versuchsbeginn, Rücktritt.
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Strafrecht BT (Nebendelikte): § 201a Abs. 2 StGB, Verhältnis zu § 33 KunstUrhG.
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Strafrecht AT: Rechtfertigungsgründe (Notwehr, Notstand) und deren Grenzen.
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Medienstrafrecht: Schutz der Täterpersönlichkeit vs. Opferschutz.
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Examenshinweis: Fall eignet sich ideal für Zusatzfragen, weil er aktuelle Strafnormen mit Grundrechten (Persönlichkeitsrecht, Meinungsfreiheit) verknüpft.