A. Sachverhalt
Der Angeklagte wollte seine Ehefrau töten, nachdem sie ihm ihre Scheidungsabsicht mitgeteilt hatte. Um dies zu erreichen, übergoss er sie plötzlich mit einem Eimer Benzin und versuchte, sie anzuzünden. Während einer sich anschließenden Rangelei versuchte er weiterhin, ein Streichholz zu entzünden. Es gelang der Frau jedoch zu flüchten.
Der Angeklagte folgte ihr in den Garten, riss sie zu Boden und würgte sie so lange, bis sie das Bewusstsein verlor. Schließlich ließ er von ihr ab – ohne dass geklärt werden konnte, warum er sein Tötungsvorhaben aufgab. Das Landgericht sah hierin keinen strafbefreienden Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 StGB, da der Angeklagte bereits einen fehlgeschlagenen Versuch unternommen habe.
B. Worum geht es?
Zentraler Streitpunkt in diesem Fall ist die Abgrenzung zwischen einem beendeten und einem unbeendeten Versuch im Sinne des § 24 Abs. 1 StGB. Der Bundesgerichtshof (BGH) stellt bei dieser Unterscheidung auf den sogenannten Rücktrittshorizont ab:
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Ein beendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter nach seiner letzten Ausführungshandlung erkennt, dass der Erfolgseintritt wahrscheinlich ist oder ihn für möglich hält.
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Ein unbeendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter davon ausgeht, dass er den Erfolg noch nicht herbeigeführt hat und weitere Handlungen nötig wären.
Der Streitpunkt im Benzinguss-Fall besteht darin, ob der Angeklagte insgesamt einen unbeendeten Versuch begangen hat, von dem er strafbefreiend zurücktreten konnte, oder ob sein erster Versuch (mittels Benzin) bereits gescheitert war und er daher nicht mehr zurücktreten konnte. Wenn man das Tatgeschehen als einheitlich betrachtet, wäre ein Rücktritt noch möglich gewesen. Wird der Brandanschlag jedoch als isolierter Tötungsversuch gewertet, wäre dieser fehlgeschlagen und ein späterer Rücktritt ausgeschlossen.
C. Entscheidung des BGH
Der BGH (Beschl. v. 07.02.1986 – 3 StR 25/86) hob das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung zurück. Dabei ging der BGH davon aus, dass es sich um einen unbeendeten Versuch handelte, sodass der Angeklagte möglicherweise strafbefreiend zurückgetreten sein könnte (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB).
Unter Bezugnahme auf frühere Entscheidungen – insbesondere den Kopfschuss-Fall – stellte der BGH klar, dass für die Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch nicht nur die Vorstellungen des Täters zu Tatbeginn, sondern die gesamte Tatentwicklung maßgeblich sind.
Wichtige Kernaussagen des Gerichts:
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Auch bei einem zunächst gescheiterten Angriff bleibt der Rücktrittshorizont entscheidend: Das Gericht bestätigte, dass ein fehlgeschlagener Versuch nur dann vorliegt, wenn der Täter nicht mehr glaubt, die Tat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu vollenden. Hier wusste der Angeklagte jedoch, dass er seine Frau durch Würgen noch töten konnte.
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Einheitliches Tatgeschehen: Der BGH sah zwischen dem Benzinanschlag und dem Würgeangriff keine tatbestandlich relevante Zäsur. Da der Täter sein Ziel weiterhin verfolgte und noch geeignete Mittel zur Verfügung hatte, war der Versuch nicht endgültig fehlgeschlagen.
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Keine künstliche Zergliederung eines Tatgeschehens: Ein einheitlicher Geschehensablauf, in dem mehrere Tatmittel nacheinander eingesetzt werden, sollte nicht künstlich in einzelne Versuche zerteilt werden. Der BGH betonte, dass dies dem Rechtsgüterschutz widerspreche und einem effektiven Rücktrittssystem zuwiderlaufe.
Zitat aus der Entscheidung:
„Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs […] sind die Fallgruppen des unbeendeten und des beendeten Versuchs nicht allein nach den Vorstellungen des Täters bei Tatbeginn abzugrenzen. Vielmehr sind für die Frage des strafbefreienden Rücktritts von der Tatausführung die Vorstellungen des Täters nach der letzten Ausführungshandlung entscheidend (‘Rücktrittshorizont’ nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung).“
Der BGH stellte außerdem klar, dass ein strafbarer fehlgeschlagener Versuch nicht vorliegt, wenn der Täter mit noch vorhandenen Mitteln die Tat weiterführen könnte, dies aber unterlässt.
D. Konsequenzen für die Praxis und Prüfungsrelevanz
Der Benzinguss-Fall ist ein Musterbeispiel für die Anwendung der Rücktrittsregeln bei einem mehraktigen Tatgeschehen und wird regelmäßig in Klausuren geprüft. Besonders relevant sind:
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Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch: Der Fall verdeutlicht, dass der Rücktrittshorizont entscheidend für die Einordnung des Versuchs ist.
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Verbot der künstlichen Tatspaltung: Eine einheitliche Tatausführung darf nicht in mehrere gesonderte Versuche zerlegt werden.
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Rücktrittsmöglichkeit auch nach Fehlschlagen einzelner Tatmittel: Solange der Täter noch andere Mittel zur Verfügung hat und die Tat nicht endgültig gescheitert ist, bleibt ein Rücktritt möglich.
Durch diese Grundsätze trägt die Entscheidung des BGH zur Klarstellung der Rücktrittsproblematik bei und vermeidet eine zu starre Betrachtung des Tatgeschehens.
(BGH, Beschl. v. 07.02.1986 – 3 StR 25/86)