A. Einleitung
Der sogenannte "Denkzettel-Fall" behandelt eine zentrale Frage des Strafrechts, nämlich die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts vom unbeendeten Versuch, wenn der Täter sein außertatbestandliches Handlungsziel erreicht hat. Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs (BGH) hat diese Thematik in seinem Beschluss vom 19. Mai 1993 (BGHSt 39, 221 ff.) grundlegend geklärt.
B. Sachverhalt
Der Angeklagte stieß seinem Mitbewohner in einem Asylbewerberheim ein Messer mit einer 12 cm langen Klinge in den Bauch, um ihm einen "Denkzettel" zu verpassen und ihn einzuschüchtern. Dabei nahm er den Tod des Opfers billigend in Kauf. Durch den Stich wurde der Brustraum eröffnet, das Zwerchfell durchstochen und der rechte Leberlappen verletzt. Ohne ärztliche Behandlung wäre die Verletzung binnen 24 Stunden tödlich verlaufen.
Der Angeklagte zog das Messer aus dem Körper des Opfers und verließ den Raum. Das Opfer bemerkte die Schwere der Verletzung erst später, ließ sich einen Notverband anlegen und begab sich selbstständig zur Polizei.
Das Landgericht Weiden verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Es verneinte einen strafbefreienden Rücktritt, da der Angeklagte nach dem einzigen Messerstich "alles getan habe, was in seinem Tatplan enthalten war".
Der Angeklagte legte Revision ein und rügte insbesondere die Ablehnung des strafbefreienden Rücktritts.
C. Rechtsfrage
Der Rücktritt vom Versuch ist nach § 24 Abs. 1 StGB möglich, wenn der Täter die weitere Tatausführung freiwillig aufgibt (unbeendeter Versuch) oder die Vollendung verhindert (beendeter Versuch). Eine zentrale Frage ist, ob der Rücktritt auch dann möglich bleibt, wenn der Täter sein außertatbestandliches Ziel bereits erreicht hat und daher nicht weiterhandelt.
D. Entscheidung des BGH
Der Große Senat des BGH schloss sich der Ansicht des vorlegenden 1. Strafsenats an und bejahte die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts.
1. Begriff der "Tat" in § 24 Abs. 1 StGB
Der BGH stellte klar, dass sich der Tatbegriff in § 24 StGB auf die tatbestandliche Handlung und den tatbestandlichen Erfolg beschränkt. Außertatbestandliche Motive und Ziele des Täters sind daher unerheblich.
2. Bedeutung des außertatbestandlichen Handlungsziels
Der Rücktritt ist möglich, wenn der Täter freiwillig von weiteren Tathandlungen ablässt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob er sein persönliches Handlungsziel erreicht hat. Entscheidend ist allein, ob er die weitere Tatausführung aufgibt oder verhindert.
3. Kriminalpolitische Erwägungen
Die Entscheidung fördert den Opferschutz, da dem Täter eine "goldene Brücke" zur Rückkehr in die Legalität offensteht. Es soll verhindert werden, dass ein Täter eine Tat nur fortsetzt, weil ein Rücktritt ausgeschlossen ist.
E. Bedeutung für die Praxis
Der Denkzettel-Fall zeigt, dass bei der Prüfung des Rücktritts vom Versuch strikt zwischen dem tatbestandlichen Geschehen und außertatbestandlichen Motiven des Täters zu unterscheiden ist. Ein Rücktritt bleibt auch dann möglich, wenn der Täter sein Handlungsziel erreicht hat. In Klausuren sollte daher immer geprüft werden, ob ein freiwilliger Rücktritt vorliegt, bevor eine Bestrafung wegen Versuchs erfolgt.