Unfallflucht nach § 142 StGB erfasst auch die Kollision eines Einkaufswagens mit einem parkenden Pkw.

Unfallflucht nach § 142 StGB erfasst auch die Kollision eines Einkaufswagens mit einem parkenden Pkw.

Die Unfallflucht nach § 142 StGB ist eines der klassischen Straßenverkehrsdelikte – auch wenn sie im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs und nicht in der StVO geregelt ist. Strafbar macht sich, wer als Unfallbeteiligter im öffentlichen Straßenverkehr einen Unfall verursacht und sich anschließend entfernt, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen.

Doch was gilt, wenn die Kollision nicht zwischen Fahrzeugen, sondern zwischen einem Einkaufswagen und einem parkenden Auto erfolgt? Handelt es sich dabei überhaupt um einen „Unfall im Straßenverkehr“? Das Oberlandesgericht Naumburg hatte mit Beschluss vom 6. Mai 2024 (Az. 1 ORs 38/24) Gelegenheit, diese Frage zu klären – und nutzte sie, um die Reichweite des § 142 StGB zu verdeutlichen.

 

Der Sachverhalt – ein Hund, ein Einkaufswagen und ein Auto

Der Angeklagte A parkte seinen Pkw auf dem Parkplatz eines Supermarkts und holte sich einen Einkaufswagen. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto riss sich sein Hund los. A ließ den Einkaufswagen los, um den Hund anzuleinen. Der Wagen geriet auf dem leicht abschüssigen Parkplatz ins Rollen, drehte sich und stieß gegen einen abgestellten Pkw des Geschädigten G. Dabei entstand eine deutliche Eindellung und eine Schramme am Fahrzeug. A bemerkte den Vorfall, ging aber dennoch in den Supermarkt einkaufen, ohne weitere Feststellungen zu ermöglichen.

Das Amtsgericht und später das Landgericht Magdeburg verurteilten ihn wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB). A legte Revision ein und berief sich u. a. auf Entscheidungen des AG Dortmund und des LG Düsseldorf, die bei ähnlich gelagerten Fällen den Tatbestand verneint hatten.

 

Rechtlicher Hintergrund – wann liegt ein „Unfall im Straßenverkehr“ vor?

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist nicht jeder Schadensfall im öffentlichen Verkehrsraum automatisch ein Unfall im Sinne des § 142 StGB. Vielmehr muss sich in dem Geschehen gerade eine typische Gefahr des Straßenverkehrs verwirklichen – ein straßenverkehrsspezifischer Gefahrenzusammenhang. So sollen Ereignisse ausgeschlossen werden, die zwar örtlich im öffentlichen Verkehrsraum stattfinden, aber mit dessen Gefahren nichts zu tun haben.

Das OLG Naumburg stellte zunächst klar, dass der Parkplatz eines Supermarkts während der Öffnungszeiten eine öffentliche Verkehrsfläche ist. Der Umstand, dass der Unfall im „ruhenden Verkehr“ stattfand, stehe der Anwendbarkeit des § 142 StGB nicht entgegen. Schon § 142 Abs. 4 StGB zeigt, dass auch Schäden an parkenden Fahrzeugen erfasst werden.

 

Selbständig rollender Einkaufswagen – straßenverkehrstypische Gefahr?

Besonders interessant war die Frage, ob der Unfallcharakter entfällt, weil der Einkaufswagen „selbständig“ ins Rollen kam. Das OLG verneinte dies deutlich: Eine willensgesteuerte Bewegung sei keine zwingende Voraussetzung. Auch ein wegrollender Pkw oder ein gelöster Anhänger könnten einen Unfall im Straßenverkehr begründen. Entscheidend sei, dass sich eine Gefahr verwirklicht, die typischerweise mit der Teilnahme am Straßenverkehr verbunden ist.

Hier habe A als Fußgänger mit Einkaufswagen im räumlichen Bereich der geparkten Fahrzeuge gehandelt – eine alltägliche Nutzung eines Supermarktparkplatzes. Das Mitsichführen eines Einkaufswagens sei ein typischer Verkehrsvorgang an diesem Ort. Schäden, die hierdurch – sei es direkt oder durch Entgleiten – verursacht werden, seien nicht „verkehrsfremd“.

 

A als Unfallbeteiligter

Nach § 142 Abs. 5 StGB ist Unfallbeteiligter, wer durch sein Verhalten zur Verursachung beigetragen hat. Das gilt nicht nur für Fahrzeugführer, sondern auch für Beifahrer und Fußgänger. A fiel damit eindeutig unter diese Definition.

 

Feststellungs- und Wartepflicht

Da der Geschädigte nicht anwesend war, hätte A eine „angemessene Zeit“ warten müssen, um die Feststellungen zu ermöglichen (§ 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Er entfernte sich jedoch sofort in den Supermarkt. Damit war die objektive Tatseite erfüllt. Da A den Vorfall und den Schaden bemerkt hatte, lag auch Vorsatz vor.

 

Ergebnis und Bedeutung der Entscheidung

Das OLG Naumburg bestätigte die Verurteilung und machte deutlich: Auch Unfälle, die durch rollende Einkaufswagen verursacht werden, können unter § 142 StGB fallen, wenn sie sich im öffentlichen Verkehrsraum ereignen und einen straßenverkehrsspezifischen Zusammenhang aufweisen. Fußgänger sind hier nicht privilegiert; sie unterliegen den gleichen Pflichten wie Fahrzeugführer.


Für die Examensvorbereitung ist der Fall gleich in mehrfacher Hinsicht wertvoll:

  • Begriff des Unfalls im Straßenverkehr und die Erfordernisse des straßenverkehrsspezifischen Gefahrenzusammenhangs.

  • Einbeziehung des ruhenden Verkehrs und die Bedeutung von § 142 Abs. 4 StGB.

  • Unfallbeteiligter im Sinne von § 142 Abs. 5 StGB – auch Fußgänger können erfasst sein.

  • Pflichten nach Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 – Wartepflicht und Feststellungspflicht in Abwesenheit des Geschädigten.

  • Vorsatzprüfung: Wahrnehmung von Ereignis und Schaden.

 

Fazit

Das Urteil schärft das Verständnis für den Anwendungsbereich des § 142 StGB. Es zeigt, dass sich Studierende nicht zu sehr an der „Fahrzeug“-Perspektive festhalten dürfen – auch alltägliche Situationen wie das Mitschieben eines Einkaufswagens auf einem Parkplatz können zu einer Strafbarkeit führen. Für die Praxis bedeutet dies: Wer einen Schaden verursacht, muss die Feststellungen ermöglichen – unabhängig davon, ob er am Steuer sitzt oder zu Fuß unterwegs ist.

 

Prüfungsrelevanz:

Der Fall ist ideal, um den Prüfungsaufbau des § 142 StGB zu trainieren. Besonders relevant sind Abgrenzungen beim Unfallbegriff, der straßenverkehrsspezifische Zusammenhang, die Bestimmung des Unfallbeteiligten und die Pflichten nach Abs. 1 und Abs. 2. Auch für das zweite Examen wichtig: Beratung von Mandanten in Bagatell- und Parkplatzunfällen.

 

OLG Naumburg, Beschl. v. 06.05.2024 – 1 ORs 38/24

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