Wie schwer darf eine juristische Prüfung eigentlich sein? Diese Frage stellen sich nicht nur Studierende mitten in der Examensvorbereitung – sie bewegt inzwischen auch Professoren, die die Statistik hinter den Prüfungen genauer unter die Lupe nehmen. Eine neue Auswertung von Prof. Dr. Jörn Griebel (Universität Siegen) und Prof. Dr. Roland Schimmel (Frankfurt UAS) zeigt: Das System der staatlichen Pflichtfachprüfung steht auf wackligen Beinen.
16.512 Klausuren – nur ein einziges Mal 18 Punkte
Die beiden Wissenschaftler haben die anonymisierten Ergebnisse aller neun Examenskampagnen des Jahres 2022 in Nordrhein-Westfalen ausgewertet. Das Ergebnis ist ernüchternd: Unter 16.512 bewerteten Klausuren wurde nur einmal die Bestnote von 18 Punkten vergeben. Selbst im Bereich von 17 oder 16 Punkten bewegten sich die Zahlen im Promillebereich. Nur etwa 3 Prozent aller Einzelnoten lagen überhaupt im Segment „gut“ oder „sehr gut“.
Diese Zahlen werfen die Frage auf, ob die Aufgabenstellungen oder die Bewertungspraxis der Prüfer realistische Chancen auf Spitzennoten zulassen – oder ob die Prüfungen schlicht zu streng angelegt sind.
Die Realität: Durchschnitt „ausreichend“
Noch deutlicher wird das Bild beim Blick auf den Gesamtdurchschnitt: Die durchschnittliche Note aller 16.512 Klausuren lag bei 5,69 Punkten – also mittleres „ausreichend“. Nur jeder siebte Prüfling erreichte überhaupt eine zweistellige Punktzahl. Und während 3,9 Prozent der Kandidaten einen Notendurchschnitt im zweistelligen Bereich schafften, erzielte kein einziger Prüfling einen „sehr guten“ Gesamtschnitt.
Besonders aufschlussreich: Die häufigste Note war nicht etwa „befriedigend“ oder „ausreichend“ – sondern 2 Punkte. Fast jede achte Klausur wurde so bewertet.
Zwischen Anspruch und Zumutbarkeit
Das führt zu einer grundsätzlichen Frage: Sind die Examensklausuren so gestaltet, dass sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Eignung, Zumutbarkeit und Fairness noch entsprechen? Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1991 betont, dass Prüfungen gemäß Art. 12 Abs. 1 GG „nicht ungeeignet, unnötig oder unzumutbar“ sein dürfen. Wenn aber selbst die besten Kandidaten keine Chance auf Bestnoten haben, stellt sich die Frage nach der Validität und Reliabilität des gesamten Prüfungsverfahrens.
Ein strukturelles Problem des Systems
Die Autoren betonen, dass das Problem nicht bei den Studierenden liegt. Viele der Prüflinge investieren zehn bis elf Semester Lernzeit, besuchen Repetitorien, schreiben Übungsklausuren – und trotzdem scheitern rund ein Drittel an der Bestehensgrenze oder bestehen nur knapp. Das verweist auf ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Leistungsfähigkeit und Erwartungshaltung der Prüfungsämter.
Gleichzeitig steht fest: Das schriftliche Examen entscheidet wesentlich über die juristische Laufbahn – wer hier scheitert, hat oft keine zweite Chance. Umso wichtiger wäre eine Prüfung, die messbar und fair bewertet, anstatt zufällige Ergebnisse zu produzieren.
Fazit: „Die beste Prüfung der Welt“?
Die Erste Juristische Prüfung wird oft als besonders anspruchsvoll und qualitativ hochwertig bezeichnet. Doch die Zahlen aus NRW zeigen: Sie könnte vielmehr eine der unfairsten Prüfungen Deutschlands sein. Wenn der Durchschnitt „ausreichend“ ist und Bestnoten praktisch nicht vorkommen, dann hat das System ein Problem – nicht die Studierenden.
Vielleicht ist es also an der Zeit, dass sich die Justizprüfungsämter selbst einer Prüfung unterziehen.

