Die Fünf-Jahres-Rechnung: Warum die juristische Ausbildung jetzt handeln muss

Die Fünf-Jahres-Rechnung: Warum die juristische Ausbildung jetzt handeln muss

Es gibt Momente, in denen man spürt, dass sich etwas Grundlegendes verändert. Nicht langsam, schleichend, sondern in einer Geschwindigkeit, die Institutionen – und manchmal auch Menschen – überfordert. Genau in so einem Moment befindet sich die juristische Ausbildung heute. Die Diskussion darüber, welche Rolle Juristinnen und Juristen in Zukunft spielen werden, ist nicht mehr theoretisch. Sie ist akut.

General AI – also Systeme, die nicht nur Aufgaben ausführen, sondern Zusammenhänge wirklich verstehen – ist keine ferne Zukunftsvision. Die Einschätzung vieler Forscherinnen und Praktiker spricht von einem Zeitraum von ungefähr fünf Jahren. Die Veränderung, die daraus folgt, ist größer als die Einführung von Legal Tech, Westlaw oder automatisierten Dokumentenprüfungen. Sie stellt das Selbstverständnis des gesamten Berufs infrage.

Traditionell wurde der Wert juristischer Arbeit daraus abgeleitet, dass nur Juristen den Zugang zum Recht wirklich beherrschen. Wer Verträge verstehen wollte, wer wusste, wie Gerichte entscheiden, wer Konflikte ordnen konnte – der brauchte Anwälte. Die Frage war nie, ob wir gebraucht werden. Sondern nur: wie sehr.

Doch die Realität verschiebt sich. Menschen wollen keine Anwälte – sie wollen Lösungen. Sie wollen Klarheit im Vertrag, Sicherheit im Geschäft, Verlässlichkeit im Alltag. Und wenn ein System in der Lage ist, Verträge so zu formulieren, dass Missverständnisse kaum entstehen, wenn es schon vorab Konflikte antizipiert und vermeidbare Streitigkeiten schlicht nicht mehr entstehen lässt, dann verliert die juristische Tätigkeit ihren Status als notwendiger Vermittler.

Natürlich wird argumentiert, dass Menschen weiterhin benötigt werden, um die Arbeit der KI zu prüfen. Dass Kontrolle, Erfahrung und menschliches Ermessen nicht ersetzbar seien. Doch dieses Argument hält nur so lange, wie Menschen weniger Fehler machen als Maschinen. In dem Moment, in dem die Fehlerrate der KI niedriger ist als die des durchschnittlichen Juristen, wird die ökonomische Logik sprechen. Kontrolle durch Menschen wird dann zur teuren Ausnahme, nicht zur Regel.

Das bedeutet nicht, dass rechtliches Denken wertlos wird. Im Gegenteil. Die Fähigkeit, Strukturen, Zusammenhänge und Anreizsysteme des Rechts zu verstehen, wird wichtiger als jemals zuvor. Nur wird dieses Wissen nicht mehr hauptsächlich von Menschen genutzt, die in Kanzleien und Gerichtssälen arbeiten. Es wird genutzt von denen, die die Systeme gestalten, die unser Zusammenleben ordnen.

Juristische Ausbildung muss daher ihr Selbstbild ändern. Wenn sie weiterhin Wissen in Form von Katalogen, Prüfungsschemata und starren Definitionen vermittelt, verliert sie ihre Relevanz. Dieses Wissen ist bereits heute maschinell abrufbar. Was wir brauchen, ist etwas anderes:

Ein Verständnis dafür, wie Regeln menschliches Verhalten formen. Die Fähigkeit, zu erkennen, welche Lösungen Konflikte vermeiden, statt sie nachträglich zu bearbeiten. Ein Blick dafür, wie Recht mit anderen Systemen – Technologie, Ökonomie, Psychologie – verflochten ist. Und eine Haltung, die nicht den Status quo verwaltet, sondern die Zukunft gestaltet.

Juristinnen und Juristen der nächsten Generation werden weniger zu Streitern in Auseinandersetzungen und mehr zu Architekten sozialer Systeme. Sie werden entscheiden, wie sich Recht in Algorithmen, Verträgen, Plattformen und automatisierten Abläufen niederschlägt. Sie werden gefragt sein, wo Grenzen liegen sollen und was geschützt werden muss. Je mehr Maschinen Entscheidungen treffen, desto wichtiger wird die Frage nach den Regeln, die diese Maschinen leiten.

Die juristische Ausbildung steht damit vor einer Wahl. Entweder sie verteidigt eine Berufsrolle, die bereits jetzt beginnt zu verschwinden – oder sie bildet Menschen aus, die den Übergang gestalten können.

Die nächsten fünf Jahre entscheiden darüber, ob unsere juristischen Fakultäten Orte sind, an denen Zukunft entwickelt wird – oder Museen für ein Berufsbild, das es bald nicht mehr in seiner bisherigen Form geben wird.

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