1 Mio. Euro Schmerzensgeld wegen grober Behandlungsfehler bei der Geburt

1 Mio. Euro Schmerzensgeld wegen grober Behandlungsfehler bei der Geburt

LG Göttingen, Urt. v. 14.08.2025, Az. 12 O 85/21

Medizinrechtliche Fälle zählen zu den tragischsten Konstellationen im Zivilrecht. Sie führen häufig zu existenziellen Beeinträchtigungen für die Betroffenen und werfen zugleich schwierige Fragen der Arzthaftung auf. Jüngst hat das Landgericht Göttingen einem neunjährigen Mädchen aufgrund schwerster Geburtsschäden ein Rekord-Schmerzensgeld in Höhe von einer Million Euro zugesprochen – die bislang höchste Summe, die das Gericht in einem Arzthaftungsverfahren zugesprochen hat.

 

Sachverhalt

Die Klägerin kam im Jahr 2016 zur Welt. Nach den Feststellungen des Gerichts unterließen es sowohl die zuständige Hebamme als auch der behandelnde Arzt, einen dringend erforderlichen Notkaiserschnitt einzuleiten. Auch nach der Geburt wurde das Kind nicht ausreichend überwacht und mit Sauerstoff versorgt. Zudem rief das Krankenhauspersonal den spezialisierten Notdienst der Universitätsmedizin nicht rechtzeitig hinzu.

Die Folge: Das Mädchen leidet seitdem an schwersten körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Sie kann weder selbständig essen noch ohne permanente Betreuung leben. Eine Besserung ihres Zustands ist ausgeschlossen.

 

Entscheidung des LG Göttingen

Das LG Göttingen sah in diesem Vorgehen grobe Behandlungsfehler. Der beklagten Krankenhausgesellschaft wurde daher ein erhebliches Verschulden zur Last gelegt. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die Schwere und die lebenslangen Folgen der Pflichtverletzung ein außergewöhnlich hohes Schmerzensgeld rechtfertigen.

Die zugesprochene Millionensumme liegt im absoluten Spitzenbereich. Vergleichbar sind nur wenige Fälle, etwa das Urteil des LG Limburg aus dem Jahr 2021, das einem Jungen mit schwersten Hirnschäden infolge ärztlicher Fehler ebenfalls 1.000.000 Euro Schmerzensgeld zusprach.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die betroffene Geburtsstation wurde zwischenzeitlich geschlossen.

 

Juristische Einordnung

Anspruchsgrundlagen

Das Schmerzensgeld wurde zugesprochen auf Grundlage von

  • § 280 Abs. 1 BGB (Verletzung vertraglicher Pflichten),

  • § 823 Abs. 1 BGB (unerlaubte Handlung), jeweils i.V.m.

  • § 253 Abs. 2 BGB (Schmerzensgeld für Körper- und Gesundheitsschäden).

 

Funktionen des Schmerzensgeldes

Das Schmerzensgeld erfüllt zwei Funktionen:

  1. Ausgleichsfunktion – für die erlittenen Schmerzen, Leiden und Beeinträchtigungen, die durch Geld zwar nicht aufgehoben, aber in gewisser Weise gemildert werden sollen.

  2. Genugtuungsfunktion – die Zubilligung einer Geldentschädigung dient zugleich der Anerkennung des erlittenen Unrechts und der Ahndung des Fehlverhaltens des Schädigers.

 

Bemessungskriterien

Die Höhe richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere:

  • Art und Schwere der Gesundheitsbeeinträchtigung,

  • Dauer und Intensität der Leiden,

  • Lebensumstände und Zukunftsaussichten des Geschädigten,

  • Ausmaß des Verschuldens der behandelnden Ärzte.

Im konkreten Fall überwogen vor allem die irreversiblen und gravierenden Schäden sowie die lebenslange Abhängigkeit von Pflege.

 

Bedeutung der Entscheidung

Das Urteil verdeutlicht zweierlei:

  • Zum einen, wie gravierend die Folgen grober Behandlungsfehler im Bereich der Geburtshilfe sein können.

  • Zum anderen, dass deutsche Gerichte zunehmend bereit sind, in medizinischen Extremfällen auch sehr hohe Schmerzensgeldbeträge zuzusprechen.

Vergleichbare Summen außerhalb des Medizinrechts sind äußerst selten (vgl. LG Köln 2017: 1 Mio. Euro für Altkanzler Helmut Kohl wegen schwerer Persönlichkeitsrechtsverletzung).

 

Fazit

Das Urteil des LG Göttingen setzt ein starkes Signal im Bereich der Arzthaftung: Bei groben Pflichtverletzungen mit irreversiblen Folgen schrecken die Gerichte nicht mehr davor zurück, Schmerzensgeldsummen im Millionenbereich zuzusprechen. Für betroffene Familien bedeutet dies zwar keinen Ausgleich des erlittenen Leids, jedoch eine erhebliche finanzielle Unterstützung für die lebenslange Betreuung.

 

Prüfungsrelevanz

Für das Examen ist der Fall ein Musterbeispiel für die Arzthaftung im Schnittfeld von Vertragsrecht (§ 280 BGB) und Deliktsrecht (§ 823 BGB). Die Einordnung des Schmerzensgeldes nach § 253 Abs. 2 BGB sowie die Prüfung grober Behandlungsfehler sind Standardthemen im Zivilrecht. Auch die prozessuale Rolle von Sachverständigengutachten ist prüfungsrelevant.

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