Was mit dem Versuch begann, einen Betriebsrat zu gründen, endete in einem arbeitsrechtlichen Paukenschlag: Das Landesarbeitsgericht (LAG) München hat einem 24-jährigen Jurastudenten in einem spektakulären Verfahren rund 100.000 Euro zugesprochen. Die Urteile (Teilurteil vom 16.04.2025 und Schlussurteil vom 04.06.2025, Az. 11 Sa 456/23) zeigen eindrucksvoll, wie weitreichend der arbeitsrechtliche Schutz auch für Minijobber sein kann – und sie setzen Maßstäbe bei Entgeltfortzahlung, Trinkgeldersatz und immateriellen Wiedergutmachungen.
Der Fall: Betriebsratsinitiative als Kündigungsauslöser
Der Student war als Kellner in einer traditionsreichen Gaststätte beschäftigt. Im Sommer 2021 initiierte er eine Betriebsratswahl. Nachdem die erste Wahlversammlung scheiterte, wurde er nicht mehr zum Dienst eingeteilt. Als er daraufhin Annahmeverzugslohn verlangte, bot ihm der Arbeitgeber nur eine Küchenstelle an – die er verweigerte. Kurz darauf folgte die fristlose Kündigung wegen angeblicher beharrlicher Arbeitsverweigerung. Der Student klagte mit insgesamt 36 Anträgen.
Die Entscheidung des LAG München: 7 zentrale Aspekte
1. Unwirksame Kündigung als Maßregelung nach § 612a BGB
Das LAG erkannte die Kündigung als unzulässige Maßregelung nach § 612a BGB. Sie sei eine Reaktion auf die Betriebsratsinitiative gewesen. Auch die Versetzung in die Küche sei bewusst herbeigeführt worden, um Druck auszuüben.
2. Trinkgeld als ersatzfähiger Schaden
Das Gericht sprach dem Student 100 Euro Trinkgeld pro Schicht als ersatzfähigen Schaden gem. § 252 BGB zu. Trinkgeld sei im Gastgewerbe Teil der typischen Vergütungsstruktur und daher zu ersetzen.
3. Naturallohn: Essen und Getränke ersatzfähig
Auch der geldwerte Vorteil durch Verzehr von Speisen und Getränken nach der Schicht sei Teil des Vergütungspakets und als Naturallohn zu kompensieren.
4. Anspruch auf Entschuldigung als immaterielle Restitution
Das Gericht verurteilte den Arbeitgeber zu einer schriftlichen Entschuldigung. In der Kündigung wurde das Alter des Studenten und sein Status als Teilzeitkraft abwertend hervorgehoben. Das LAG wertete dies als mittelbare Altersdiskriminierung. Der Anspruch stützt sich auf Grundsätze der immateriellen Naturalrestitution in Anlehnung an die EuGH-Rechtsprechung.
5. Persönliche Haftung des Geschäftsführers
Der Student bezog den Geschäftsführer mit ein – zu Recht. Das LAG bejahte eine Durchgriffshaftung nach § 823 II BGB i.V.m. § 612a BGB und § 20 II BetrVG. Der Geschäftsführer habe vorsätzlich gegen Schutzgesetze verstoßen.
6. Urlaubsanspruch von 72 Tagen
Das Unternehmen hatte den Studenten nie über seinen Urlaubsanspruch aufgeklärt. Das LAG wandte die EuGH-Rechtsprechung (C-684/16, "Max-Planck") an: Ohne Mitwirkung des Arbeitgebers verfällt der Urlaub nicht. Auch die neue Arbeitgeberin gem. § 613a BGB musste den Urlaub gewähren.
7. Weitere Nebenansprüche anerkannt
-
Überstunden: Deutlich mehr geleistete als vertraglich vereinbarte Stunden
-
Wäschegeld: Arbeitgeber muss Reinigungskosten für vorgeschriebene Dienstkleidung tragen
-
Gläsergeld: Pauschaler Lohnabzug unzulässig
-
Wiederaufnahme in WhatsApp-Gruppe: Verletzung sozialer Teilhabe
Fazit
Das Urteil des LAG München setzt neue Akzente im Arbeitsrecht: Es zeigt, dass auch studentische Minijobber weitreichende Rechte haben – und dass Gerichte bereit sind, diese in aller Konsequenz durchzusetzen. Besonders die Anerkennung von Trinkgeld und Naturallohn, die Verpflichtung zur Entschuldigung und die Durchgriffshaftung auf Geschäftsführer könnten auch für andere Verfahren richtungsweisend sein.
Prüfungsrelevanz
-
Kündigungsschutzrecht: § 612a BGB; Maßregelungsverbot; Betriebsratsinitiative
-
Schadensersatzrecht: § 252 BGB; entgangenes Trinkgeld
-
Arbeitsvergütung: Naturallohn, Wäschegeld, Gläsergeld
-
Urlaubsrecht: Mitwirkungspflicht, Verfall, § 613a BGB
-
Persönlichkeitsrecht: Anspruch auf Entschuldigung; Altersdiskriminierung
-
Geschäftsführerhaftung: § 823 II BGB, § 20 II BetrVG