Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 1. August 2025 (Rs. C-666/23) eine zentrale Argumentationslinie von VW und anderen Automobilherstellern im Dieselskandal durchkreuzt: Die Berufung auf eine EG-Typgenehmigung als Entlastung für den Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen greife nicht. Damit stärkt der EuGH nicht nur die Verbraucherrechte, sondern setzt auch klare unionsrechtliche Grenzen für staatliche Genehmigungspraxis und Herstellerverantwortung.
Hintergrund des Falls
Das Landgericht Ravensburg hatte dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mehrere Fragen zur Auslegung der EG-Typgenehmigungsrichtlinie (RL 2007/46/EG) sowie zur Produkthaftung vorgelegt. In dem Ausgangsverfahren verlangten zwei Käufer von VW-Diesel-Pkw Schadenersatz, da ihre Fahrzeuge mit dem sogenannten "Thermofenster" ausgestattet waren – einer Software, die die Abgasrückführung bei sinkenden Außentemperaturen reduziert und so zu erhöhten Emissionen führt.
VW berief sich darauf, dass diese Technik vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) genehmigt worden sei und daher kein schuldhaftes Verhalten vorliege. Die Argumentation: Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum liege vor, der eine deliktische Haftung ausschließe.
Kernaussagen des EuGH
1. EG-Typgenehmigung ist kein "Freifahrtschein"
Der EuGH stellte klar: Die Erteilung einer EG-Typgenehmigung durch eine nationale Behörde wie das KBA rechtfertigt nicht automatisch den Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen. Die Genehmigung kann zwar einen Anschein von Rechtmäßigkeit erzeugen, befreit aber nicht von der Pflicht, die unionsrechtlichen Emissionsvorgaben eigenverantwortlich einzuhalten (Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007).
2. Kein unvermeidbarer Verbotsirrtum
Ein Automobilhersteller kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, er habe einen unvermeidbaren Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Maßnahme unterlegen. Der EuGH betont, dass anderenfalls die unionsrechtlichen Vorschriften zur Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen leerliefen und Verbraucher faktisch schutzlos gestellt würden. Das Urteil stellt somit klar: Hersteller haben sich aktiv mit der Rechtslage auseinanderzusetzen.
3. Schadensersatzmöglichkeiten für Verbraucher
Besonders relevant für die Praxis: Der Gerichtshof bejaht grundsätzlich einen zivilrechtlichen Ersatzanspruch geschädigter Käufer. Er bestätigt auch die Linie des Bundesgerichtshofs (BGH), der eine pauschale Entschädigung im Korridor zwischen 5 und 15 % des Kaufpreises für sachgerecht hält – wobei nationale Gerichte sicherstellen müssen, dass die Wiedergutmachung angemessen ausfällt.
Ein Abzug für Nutzungsvorteile ist unionsrechtlich grundsätzlich zulässig.
Auswirkungen
Die gerichtliche Aufarbeitung des Dieselkomplexes ist unionsrechtlich noch lange nicht abgeschlossen. In der Konsequenz dürfte das Urteil aber nicht nur auf weitere Verfahren zu Thermofenstern Auswirkungen haben, sondern auch die unionsweite Genehmigungspraxis und die Sorgfaltspflichten von Herstellern deutlich verschärfen.
Fazit
Der EuGH verneint einen unvermeidbaren Verbotsirrtum im Zusammenhang mit unzulässigen Abschalteinrichtungen und stärkt damit die Haftung der Hersteller im Dieselskandal. Eine EG-Typgenehmigung rechtfertigt keine systematische Rechtsverletzung. Hersteller müssen sich an geltende Umweltvorgaben halten – unabhängig von staatlicher Genehmigungspraxis. Das Urteil bietet Verbraucher:innen eine gestärkte Grundlage für Schadensersatzklagen und sorgt für mehr Rechtsklarheit in einem jahrzehntelangen Skandal.
Prüfungsrelevanz
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Deliktsrecht: Voraussetzungen und Grenzen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums
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Unionsrecht: Auslegung der EG-Typgenehmigungsrichtlinie und deren Auswirkungen auf nationales Haftungsrecht
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Verbraucherschutzrecht: Rechte von Käufern bei unzulässigen Fahrzeugmanipulationen