Die Frage, ob ein Geschädigter nach einem Verkehrsunfall Anspruch auf Mietwagenkosten hat, wenn sein eigenes Fahrzeug im Unfallzeitpunkt eine abgelaufene TÜV-Plakette hatte, war lange umstritten. Nun hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass allein der fehlende TÜV-Stempel nicht ausreicht, um den Ersatzanspruch zu verneinen. Die Entscheidung (Urteil vom 03.12.2024 – VI ZR 117/24) hat erhebliche Bedeutung für das Schadensrecht und verdeutlicht, dass sich die Ersatzfähigkeit eines Schadens streng nach den Regelungen der §§ 249 ff. BGB richtet.
Sachverhalt: Verkehrsunfall mit TÜV-Problem
Der Kläger war mit seinem Fahrzeug, das eine um mehr als sechs Monate abgelaufene TÜV-Plakette hatte, unverschuldet in einen Unfall verwickelt. Sein Fahrzeug erlitt einen Totalschaden. Während der Reparatur bzw. Ersatzbeschaffung mietete der Kläger für zwei Wochen einen Mietwagen und verlangte die Erstattung der Kosten vom Unfallverursacher.
Das Amtsgericht Erlangen gab der Klage zunächst statt und bejahte die Erstattungsfähigkeit der Mietwagenkosten. Das Landgericht Nürnberg-Fürth sah das jedoch anders: Es argumentierte, dass das Fahrzeug wegen der fehlenden TÜV-Plakette ohnehin nicht hätte genutzt werden dürfen. Der Kläger sei daher durch den Unfall nicht in einer rechtlich geschützten Position beeinträchtigt worden. Das Landgericht hob das Urteil auf und wies die Klage ab.
Der Kläger legte daraufhin Revision zum BGH ein – mit Erfolg.
Rechtliche Kernfrage: Beeinträchtigung einer geschützten Position?
Zentral für die Entscheidung war die Frage, ob ein Unfallgeschädigter Anspruch auf Ersatz der Mietwagenkosten hat, wenn sein verunfalltes Fahrzeug eine abgelaufene TÜV-Plakette hatte. Dabei spielte insbesondere der Maßstab des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB eine Rolle, wonach der Geschädigte den erforderlichen Geldbetrag verlangen kann, um den Zustand wiederherzustellen, der ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte.
Das Landgericht hatte die Ersatzfähigkeit der Mietwagenkosten mit der Begründung verneint, dass die Nutzung des Fahrzeugs aufgrund der abgelaufenen TÜV-Plakette ohnehin nicht legal gewesen sei. Folglich könne der Kläger durch den Unfall nicht in einer rechtlich geschützten Position beeinträchtigt worden sein.
Entscheidung des BGH: Nutzungsmöglichkeit bleibt bis zum behördlichen Einschreiten bestehen
Der BGH widersprach dieser Argumentation und hob das Urteil des Landgerichts auf. Die zentrale Begründung: Eine abgelaufene TÜV-Plakette allein führt nicht dazu, dass das Fahrzeug automatisch nicht mehr genutzt werden darf.
1. Kein generelles Nutzungsverbot bei abgelaufenem TÜV
Der BGH stellte klar, dass sich aus der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) nicht ergibt, dass die Nutzung eines Fahrzeugs mit abgelaufener TÜV-Plakette per se verboten ist. Nach § 29 Abs. 7 S. 4 StVZO kann die zuständige Behörde zwar den Betrieb des Fahrzeugs untersagen oder beschränken, dies setzt jedoch ein behördliches Einschreiten voraus. Solange eine solche Untersagung nicht erfolgt ist, bleibt das Fahrzeug – insbesondere wenn es verkehrssicher ist – nutzbar.
2. Ersatzfähigkeit der Mietwagenkosten nach § 249 BGB
Entscheidend für die Erstattungsfähigkeit von Mietwagenkosten ist, ob das verunfallte Fahrzeug vor dem Unfall tatsächlich genutzt wurde und auch weiterhin genutzt werden durfte. Da das Fahrzeug des Klägers tatsächlich im Verkehr war und kein behördliches Nutzungsverbot vorlag, wäre der Kläger ohne den Unfall weiter mit seinem Fahrzeug gefahren. Der Anspruch auf Mietwagenkosten ergibt sich also aus dem Grundsatz der Naturalrestitution nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB.
3. Abgrenzung zur fehlenden Betriebserlaubnis
Der BGH wies darauf hin, dass eine abgelaufene TÜV-Plakette nicht mit einem Fahrzeug gleichzusetzen sei, dessen Betriebserlaubnis erloschen ist. Anders als in Fällen, in denen eine technische Manipulation oder ein schwerwiegender Mangel zum Erlöschen der Betriebserlaubnis führt, bleibt die Nutzung eines Fahrzeugs mit abgelaufenem TÜV bis zu einer behördlichen Entscheidung faktisch und rechtlich möglich.
4. Keine Untersagung nachträglich unterstellen
Der BGH betonte zudem, dass die Ersatzfähigkeit von Schäden nicht von hypothetischen Überlegungen abhängt. Dass die Behörde theoretisch die Nutzung hätte untersagen können, genügt nicht, um den Schadenersatzanspruch zu verneinen. Maßgeblich ist allein die tatsächliche Nutzungsmöglichkeit zum Zeitpunkt des Unfalls.
Prüfungsrelevanz: Schadensrecht im Fokus
Diese Entscheidung zeigt, wie sorgfältig die Ersatzfähigkeit eines Schadens geprüft werden muss. Für das Studium und das Examen sind insbesondere folgende Aspekte von Bedeutung:
• Grundsatz der Naturalrestitution nach § 249 BGB: Der Schadenersatz soll den Zustand wiederherstellen, der ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte.
• Ausnahmefälle der Ersatzfähigkeit: Schadensersatz kann ausgeschlossen sein, wenn der Geschädigte ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre, den Schaden zu vermeiden.
• Rechtliche Nutzbarkeit eines Fahrzeugs mit abgelaufenem TÜV: Eine fehlende TÜV-Plakette führt nicht automatisch zu einem Nutzungsverbot.
• Abgrenzung zur fehlenden Betriebserlaubnis: Der BGH zieht eine klare Linie zwischen einer rein formalen Überschreitung der TÜV-Frist und einer tatsächlichen Untersagung der Nutzung durch die Behörde.
Für eine Examensklausur könnte eine Abwandlung dieses Falls dazu dienen, den Umgang mit § 249 BGB sowie mit Einwendungen gegen die Ersatzfähigkeit bestimmter Schäden zu prüfen. So könnte das Prüfungsamt z. B. eine Sachverhaltsvariation konstruieren, bei der das verunfallte Fahrzeug tatsächlich nicht mehr verkehrssicher war oder die Behörde bereits eine Untersagungsverfügung erlassen hatte.
Fazit: Ersatzfähigkeit trotz formalen Mangels
Mit dieser Entscheidung verdeutlicht der BGH, dass Schadensersatz nicht an formaljuristische Erwägungen gekoppelt ist, sondern an die tatsächliche Nutzungsmöglichkeit eines beschädigten Fahrzeugs. Eine abgelaufene TÜV-Plakette allein ist daher kein Grund, um Mietwagenkosten zu versagen. Entscheidend bleibt, dass der Geschädigte das Fahrzeug ohne den Unfall weiter genutzt hätte und somit ein Vermögensnachteil durch den Unfall entstanden ist. Diese klare Linie im Schadensrecht schafft Rechtssicherheit und verhindert eine übermäßige Einschränkung berechtigter Ersatzansprüche.
Urt. v. 28.02.2025 – VI ZR 12/24
Nur eine kleine Anmerkung: Es handelt sich bei dieser Entscheidung um das Urteil vom 03.12.2024 – VI ZR 117/24.