Wann muss sich ein Unfallopfer nach einem schweren Verkehrsunfall beruflich neu orientieren? Und wann darf es weiterhin auf Schadensersatz für entgangenen Verdienst hoffen? Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat mit Urteil vom 08.07.2025 (Az. 6 U 145/24) eine differenzierte Antwort auf diese Fragen gegeben und damit ein praxisrelevantes Urteil zur Reichweite der Schadensminderungspflicht nach § 254 BGB getroffen. Im Zentrum steht ein Paketzusteller, der nach einem schweren Unfall dauerhaft nicht mehr in seinem Beruf arbeiten konnte.
Der Fall: Unfall, Einschränkung und Schadensersatz
Der Kläger arbeitete als Paketzusteller und erlitt bei einem Verkehrsunfall im Jahr 2016 schwerwiegende Verletzungen an der Hand. Die Haftung der Pkw-Fahrerin und deren Haftpflichtversicherung war dem Grunde nach unstreitig. Der Geschädigte verlangte jahrelang Verdienstausfall. Das Landgericht erkannte diesen jedoch nur bis Ende 2017 an. Ab Januar 2018, so die Argumentation, habe sich der Kläger um eine alternative, leidensgerechte Tätigkeit bemühen müssen. Die Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg.
Rechtlicher Ausgangspunkt: § 249 und § 254 BGB
Grundlage des Anspruchs ist § 249 Abs. 1 BGB (Naturalrestitution). Die Besonderheit: Der Anspruch kann gemäß § 254 Abs. 2 BGB gekürzt werden, wenn das Unfallopfer zumutbare Anstrengungen zur Schadensminderung unterlässt. Ein ordentlicher und verständiger Mensch muss alles Zumutbare unternehmen, um den Schaden gering zu halten. Das umfasst auch die Pflicht zur beruflichen Umorientierung, wenn die alte Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann.
Maßstab: Wann ist Umschulung zumutbar?
Das OLG stellt klar: In den ersten Monaten nach einem Unfall dürfen Geschädigte berechtigt auf Heilung und berufliche Rückkehr hoffen. Erst wenn sich eine nachhaltige Besserung ausschließen lässt und feststeht, dass die vorherige Tätigkeit dauerhaft nicht möglich ist, entsteht die Pflicht zur Neuorientierung. Im entschiedenen Fall war dieser Zeitpunkt aus Sicht des Gerichts spätestens im Januar 2019 erreicht, als der Kläger seine Arbeit unter Einnahme starker Schmerzmittel wieder aufnahm.
Sekundäre Darlegungslast des Geschädigten
Ein zentraler Aspekt des Urteils betrifft die prozessuale Darlegungslast. Zwar trägt grundsätzlich der Schädiger die Darlegungs- und Beweislast für ein Mitverschulden. Im Rahmen der sekundären Darlegungslast muss jedoch der Geschädigte nachvollziehbar darlegen, welche Umschulungs- oder Bewerbungsversuche er unternommen hat. Tut er das nicht, darf das Gericht von einem hypothetischen Einkommen ausgehen und den Anspruch entsprechend mindern (§ 138 Abs. 3 ZPO).
Ergebnis
Der Kläger erhielt Verdienstausfall für die Jahre 2016 bis 2018, nicht jedoch darüber hinaus. Ab 2019 sei es ihm zumutbar gewesen, sich beruflich umzuorientieren. Da er dies unterließ und keine ausreichenden Erwerbsbemühungen dargelegt hatte, wurde sein Anspruch fiktiv gekürzt.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Stuttgart liefert eine mustergültige Anwendung der Grundsätze zur Schadensminderungspflicht bei Verdienstausfall und eignet sich ideal zur Fallbearbeitung im Studium und Referendariat. Besonders hervorzuheben ist die Kombination aus §§ 249, 254 BGB und der sekundären Darlegungslast im Zivilprozess. Wer die Systematik dieser Konstellation beherrscht, hat ein starkes Argumentationsmuster für anspruchsvolle Klausuren an der Hand.
Prüfungsrelevanz
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Schuldrecht AT: §§ 249, 254 BGB (Naturalrestitution, Mitverschulden)
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Zivilprozessrecht: § 138 Abs. 3 ZPO (sekundäre Darlegungslast)
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Deliktsrecht: §§ 7, 18 StVG, § 115 VVG
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Verkehrsunfallrecht: Verdienstausfall, Zumutbarkeit von Umschulung