Der Einstieg in die Fallbearbeitung im Zivilrecht fällt vielen Jurastudent:innen schwer. Anders als im Strafrecht oder Öffentlichen Recht geht es im Zivilrecht darum, die sogenannten „Anspruchsgrundlagen“ zu identifizieren und zu prüfen. Aber was genau ist eine Anspruchsgrundlage, und wie findest Du sie? Hier erfährst Du, wie Du diese juristische Grundlage verstehst und effektiv in die Fallbearbeitung einsteigst.
Was versteht man unter einer Anspruchsgrundlage?
Eine Anspruchsgrundlage ist die gesetzliche Norm, aus der sich das Recht ergibt, von einer anderen Person ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Jede Anspruchsgrundlage setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen:
- Tatbestand: Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Anspruch entsteht.
- Rechtsfolge: Das, was die anspruchsberechtigte Person vom Anspruchsgegner verlangen kann.
Ein Beispiel aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ist § 985 BGB. Hier heißt es, dass der Eigentümer einer Sache von ihrem unrechtmäßigen Besitzer die Herausgabe verlangen kann. Der Tatbestand umfasst die Eigenschaft als Eigentümer und den Umstand, dass der Besitzer kein Recht zum Besitz hat. Die Rechtsfolge ist das Herausgabeverlangen.
Wie findet man die passende Anspruchsgrundlage?
Die Suche nach einer Anspruchsgrundlage beginnt mit der Frage: „Wer will was von wem woraus?“ Dieser Ansatz hilft Dir, strukturiert vorzugehen:
1. Wer? Wer ist die anspruchsberechtigte Person?
2. Was? Was möchte diese Person verlangen (z. B. Herausgabe, Zahlung, Schadensersatz)?
3. Von wem? Wer soll diese Leistung erbringen?
4. Woraus? Welche Norm im Gesetz könnte den Anspruch stützen?
Das Gesetz systematisch nutzen
Das BGB ist Dein erster Anlaufpunkt, wenn Du Anspruchsgrundlagen suchst. Zwar enthält es viele Normen, doch mit der richtigen Strategie lässt sich die Auswahl schnell eingrenzen:
1. Anspruchsziel bestimmen: Was soll erreicht werden? Geht es um Herausgabe, Zahlung, Schadensersatz oder Ähnliches?
2. BGB-Gliederung nutzen: Das BGB ist in Bücher und Abschnitte gegliedert. Je nach Ziel findest Du Anspruchsgrundlagen in verschiedenen Bereichen, z. B. im Allgemeinen Teil (AT), im Schuldrecht, Sachenrecht oder Familienrecht.
3. Normen lesen und verstehen: Lies nicht nur einzelne Normen, sondern verstehe sie im Zusammenhang. Oft verweisen Normen aufeinander und ergeben erst zusammen ein vollständiges Bild.
Beispiel: Der Fernsehverkauf
Ein kleiner Fall verdeutlicht, wie Anspruchsgrundlagen in der Praxis angewendet werden: Stell Dir vor, Du möchtest Deinen Fernseher an Deinen Mitbewohner für 2.000 Euro verkaufen. Durch einen Versprecher bietest Du ihn jedoch für 200 Euro an. Dein Mitbewohner ist begeistert und fordert die Übergabe und Übereignung des Fernsehers für 200 Euro. Was nun?
1. Wer will was von wem woraus?
• Dein Mitbewohner (Wer) möchte von Dir (von wem) den Fernseher (was).
• Die Frage ist, ob Dein Mitbewohner einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung des Fernsehers hat.
2. Anspruchsgrundlage suchen:
• Das Anspruchsziel ist die Übergabe und Übereignung. Dieses Ziel ergibt sich typischerweise aus einem Kaufvertrag. Die zentrale Norm ist § 433 BGB, der den Vertragspartner zur Übergabe der Kaufsache und den Käufer zur Zahlung des Kaufpreises verpflichtet.
3. Tatbestand prüfen:
• Es muss ein Kaufvertrag zustande gekommen sein. Dieser setzt gemäß §§ 145 ff. BGB zwei übereinstimmende Willenserklärungen voraus (Angebot und Annahme).
• Hier stellt sich die Frage, ob Dein Versprecher den Vertrag beeinflusst. Nach den §§ 119, 120 BGB könntest Du Deinen Versprecher als Anfechtungsgrund geltend machen.
Wie man den Umgang mit Anspruchsgrundlagen übt
Um die Fallbearbeitung zu meistern, ist es wichtig, regelmäßig mit dem Gesetz zu arbeiten. Lies die Normen, analysiere ihren Aufbau und überlege, wie sie in verschiedenen Fällen angewendet werden können. Mit der Zeit entwickelst Du ein Gespür dafür, wo welche Anspruchsgrundlagen zu finden sind.
Fazit: Der Schlüssel zur erfolgreichen Fallbearbeitung
Anspruchsgrundlagen sind das Fundament jeder zivilrechtlichen Fallbearbeitung. Mit der Frage „Wer will was von wem woraus?“ findest Du strukturiert den Einstieg in die Lösung. Indem Du Dich frühzeitig mit dem Gesetz vertraut machst und regelmäßig übst, wirst Du sicherer im Umgang mit Normen und deren Anwendung.