Wer auf Glatteis ausrutscht, kann leichter Schadensersatz geltend machen

Wer auf Glatteis ausrutscht, kann leichter Schadensersatz geltend machen

BGH, Beschluss vom 01.07.2025 – VI ZR 357/24

Winterliche Glätte gehört zu den größten Unfallgefahren in Deutschland. Oft stellt sich nach einem Sturz auf vereisten Gehwegen die Frage, ob der Hauseigentümer haftet, weil er seiner Streu- und Räumpflicht nicht nachgekommen ist. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einer aktuellen Leitsatzentscheidung klargestellt: Die Anforderungen daran, wann von einer „allgemeinen Glätte“ auszugehen ist, dürfen nicht überspannt werden. Damit stärkt der VI. Zivilsenat die Position von Geschädigten, die Schadensersatz nach einem Glatteisunfall geltend machen wollen.

 

Der Fall

Eine 85-jährige Frau war im Februar 2021 auf einem nicht gestreuten Gehweg vor einem privaten Anwesen gestürzt und hatte sich schwer verletzt. Auch ihr Begleiter kam zu Fall, erlitt jedoch keine größeren Blessuren. Die Frau machte geltend, dass sich an der Sturzstelle eine dicke, nicht durch Schnee bedeckte Eisschicht befunden habe, die offenbar seit Tagen nicht gestreut worden sei.

Vor dem Landgericht Gießen und dem Oberlandesgericht Frankfurt hatte sie mit ihrer Klage jedoch keinen Erfolg. Die Gerichte argumentierten, ihr Vortrag sei unsubstantiiert gewesen. Es fehle an Ausführungen zur allgemeinen Wetterlage, außerdem treffe die Seniorin ein Mitverschulden: Wer sehenden Auges eine glatte Fläche betrete, müsse selbst für die Folgen haften.

 

Die Entscheidung des BGH

Der BGH hob diese Entscheidungen auf und sah die Klägerin in ihrem rechtlichen Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Das Berufungsgericht habe die Anforderungen an den Sachvortrag der Frau überspannt.

Nach Auffassung des BGH habe die Klägerin schon in erster Instanz vorgetragen, dass am Unfalltag bei Temperaturen um 0 Grad eine spiegelglatte Eisfläche bestanden habe. Zudem habe sie die Einholung eines meteorologischen Gutachtens angeboten. Damit sei der Vortrag hinreichend substantiiert gewesen. Ein noch detaillierterer Vortrag zu „Parametern der allgemeinen Glättebildung“ sei nicht erforderlich.

Auch das Argument, ihre späteren Schriftsätze seien nach § 531 Abs. 2 ZPO präkludiert, hielt der BGH für fehlerhaft. Diese ergänzenden Ausführungen – etwa, dass es in Hessen seit Tagen zu Glatteisbildung, Unterrichtsausfällen und Verkehrschaos gekommen sei – hätten berücksichtigt werden müssen.

 

Kein vollständiges Mitverschulden

Besonders deutlich wurde der BGH beim Thema Mitverschulden. Das OLG hatte argumentiert, die Seniorin habe die Glätte sehen können und sich „sehenden Auges“ in Gefahr begeben. Dem erteilte der VI. Zivilsenat eine Absage.

Ein völliger Haftungsausschluss wegen Mitverschuldens komme nur in Betracht, wenn das Verhalten des Geschädigten durch eine „ganz besondere, schlechthin unverständliche Sorglosigkeit“ geprägt sei. Allein die Erkennbarkeit einer Eisfläche reiche nicht aus. Außerdem habe die Klägerin die Glätte erst bemerkt, als sie sich bereits auf der Fläche befand und gerade versuchte, diese zu verlassen.

 

Konsequenzen

Die Sache wurde an das OLG Frankfurt zurückverwiesen, das nun erneut über den Anspruch auf Schadensersatz entscheiden muss. Klar ist jedoch schon jetzt: Hauseigentümer müssen ihre Streupflicht ernst nehmen. Der BGH hat betont, dass die Anforderungen an den Nachweis einer allgemeinen Glätte nicht überzogen werden dürfen.

 

Fazit

Mit dieser Leitsatzentscheidung stärkt der BGH die Rechte von Unfallopfern. Wer auf vereisten Gehwegen stürzt, soll nicht an überzogenen Anforderungen an den Sachvortrag scheitern. Eigentümer müssen bei winterlichen Verhältnissen für sichere Wege sorgen – sonst drohen Schadensersatzforderungen.

 

Prüfungsrelevanz für Jurastudierende und Referendar:innen

Der Fall ist lehrreich für die Deliktsrechtsprüfung (§ 823 BGB) und die Verkehrssicherungspflichten. Wichtig sind die Abgrenzung zwischen „allgemeiner Glätte“ und vereinzelten Glättestellen, die Beweislastverteilung sowie das Mitverschulden (§ 254 BGB). Zudem enthält die Entscheidung prozessuale Aspekte: rechtliches Gehör (Art. 103 GG), Präklusion nach § 531 Abs. 2 ZPO und die Anforderungen an substantiierten Parteivortrag. Ein klassisches Examensthema, das sowohl materielles als auch prozessuales Recht verbindet.

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