Verkehrsunfälle gehören zu den klassischen Prüfungsinhalten im Zivilrecht und sind in jedem Examen ein gern gesehener Standardfall. Besonders relevant wird es immer dann, wenn mehrere Beteiligte gegen Verkehrsvorschriften verstoßen und eine Abwägung der Verursachungsbeiträge erforderlich wird. Das OLG Brandenburg (Beschluss vom 08.10.2024 – 12 U 78/24) liefert hierzu ein hervorragendes Beispiel und zeigt eindrucksvoll, wie Gerichte bei der Gewichtung von Verkehrsverstößen vorgehen.
Der Sachverhalt – Kollision beim Linksabbiegen
A fuhr mit seinem Motorrad durch die Innenstadt. Vor ihm befand sich eine Fahrzeugkolonne, die aufgrund eines abbiegenden Fahrzeugs abbremste. B fuhr mit ihrem Pkw in dieser Kolonne und beabsichtigte ebenfalls, nach links in ein Grundstück abzubiegen. Sie setzte ihren Abbiegevorgang hinter einer Fußgängerinsel und einer Sperrfläche ein, ohne sich ordnungsgemäß umzusehen. A nutzte die Gelegenheit, setzte zum Überholen an und fuhr dabei über eine durchgezogene Linie sowie an einer Sperrfläche und einer Fußgängerquerungshilfe vorbei. Auf der Gegenfahrbahn kam es zur Kollision zwischen dem Motorradfahrer A und der abbiegenden B. A verlangte daraufhin Schadensersatz und die Feststellung der Ersatzpflicht der B für zukünftige Schäden.
Die rechtliche Prüfung – Haftungsverteilung nach § 17 StVG
Zentral für die Entscheidung war die Frage, wie die Verursachungs- und Verschuldensanteile der beiden Unfallbeteiligten zu gewichten sind. Grundlage hierfür ist § 17 Abs. 1 und 2 StVG, wonach bei der Schadensverteilung alle Umstände, insbesondere das Maß des Verschuldens, zu berücksichtigen sind.
Das OLG Brandenburg hat die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 StVG bei beiden Beteiligten bejaht, da jeweils ein Kraftfahrzeug beteiligt war und es zu einem Unfall kam. Ein unabwendbares Ereignis nach § 17 Abs. 3 StVG lag nicht vor, da beide Unfallbeteiligten den Unfall bei pflichtgemäßem Verhalten hätten vermeiden können.
Verstoß der B gegen die doppelte Rückschaupflicht
B hat gegen die doppelte Rückschaupflicht gemäß § 9 StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift muss der abbiegende Verkehrsteilnehmer vor dem Einordnen und noch einmal vor dem Abbiegen den nachfolgenden Verkehr beachten. B hatte den überholenden A nicht bemerkt und sich vor dem Einleiten ihres Abbiegemanövers nicht ausreichend umgesehen.
Grobe Verkehrsverstöße des A
Dem gegenüber standen jedoch gravierende Verstöße des A. Er hatte trotz unklarer Verkehrslage überholt und dabei eine durchgezogene Linie sowie eine Sperrfläche überfahren. Dies stellt einen eindeutigen und schweren Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO dar. Die Lage war für ihn nicht überschaubar, da mehrere Fahrzeuge gleichzeitig überholt wurden und sich kurz zuvor bereits ein anderes Fahrzeug in den Abbiegevorgang befunden hatte.
Die Abwägung – vollständiges Zurücktreten der Haftung der B
In der anschließenden Abwägung der Verursachungsbeiträge kam das OLG Brandenburg zu dem Ergebnis, dass das Fehlverhalten des A so gravierend war, dass die Haftung der B vollständig zurücktrat. Das Gericht betonte, dass B aufgrund der bestehenden Verkehrszeichen, der durchgezogenen Linie und der Sperrfläche nicht damit rechnen musste, dass ein Motorradfahrer an dieser Stelle überholen würde. Der besonders grob verkehrswidrige Verstoß des A überwog so stark, dass eine Mithaftung der B trotz des Verstoßes gegen die Rückschaupflicht nicht gerechtfertigt war.
Prüfungsrelevanz der Entscheidung
Diese Entscheidung verdeutlicht, wie sensibel die Rechtsprechung bei der Gewichtung von Verkehrsverstößen ist. Für die Klausur bedeutet das: Die Abwägung nach § 17 StVG muss stets sauber und anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls erfolgen. Dabei sind nicht nur die Verkehrsverstöße als solche zu berücksichtigen, sondern auch deren Gewicht und die Frage, inwieweit sie für den Unfall kausal geworden sind.
Für Referendarinnen und Referendare ist die Entscheidung besonders lehrreich, da sie zeigt, wie wichtig die Zweckmäßigkeitserwägungen in einer Anwaltsklausur sind. Aus Klägersicht darf nicht vergessen werden, auch den Versicherer nach §§ 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. § 1 PflVG zu verklagen.
Fazit
Das OLG Brandenburg zeigt mit seiner Entscheidung auf, dass bei besonders groben Verkehrsverstößen eines Unfallbeteiligten die Betriebsgefahr und selbst kleinere Verstöße des anderen Unfallbeteiligten vollständig zurücktreten können. Auch wenn der Abbiegende seine doppelte Rückschaupflicht verletzt hat, muss er nicht haften, wenn der Unfall primär durch ein grob verkehrswidriges Verhalten des Überholenden verursacht wurde. Für die Prüfung bedeutet das: Gründliche Sachverhaltsanalyse, saubere Anwendung der StVO und eine differenzierte Abwägung nach § 17 StVG sind unerlässlich.
(OLG Brandenburg, Beschluss vom 08.10.2024 – 12 U 78/24)